Das Pesttuch
beherrschen. Im Geiste sah ich sie vor mir: Hoch gewachsen und wunderschön stand sie mit ihrer langen honigfarb e nen Haarpracht da, die Bernsteinaugen halb g e schlossen, während George Vi c cars zu ihren Füßen kniete und sich seine langen Finger zär t lich vom Saum zu ihrem Knöchel vorta s teten und dann weiter unter dem weichen Stoff emporwa n derten. Erfahrene Hände auf duftender Haut, langsam höher und immer höher … Binnen S e kunden war ich so knallrot wie dieses verdammte Kleid.
»Mister Viccars sagte mir, ich solle seine Arbeit verbrennen, da er befürchtete, die Seuche könnte sich weiter ausbreiten«, sagte ich und schluckte, um me i ne verkrampfte Kehle zu lockern.
»Das wirst du gefälligst bleiben lassen!«, rief sie empört. Ich begann zu ahnen, welche Schwierigkeit mich bei all seinen Kunden erwarten würde. Wenn schon Anys Gowdie trotz ihrer genauen Kenntnisse über Krankheiten so reagierte, war es unwahrschei n lich, dass sich irgendein anderer überreden ließe. Nur wenige von uns hier leben in üppigen Verhältnissen, und Verschwendung liebt keiner. Jeder, der für eine Arbeit von Mister Viccars eine Vorauszahlung g e leistet hatte, würde das haben wollen, was schon fe r tig war, egal, in welchem Zustand. Und ich hatte kein Recht, es ihnen zu verweigern, ungeachtet Mister Mompellions Anordnung. Anys Gowdie ging mit ihrem zusammengefalteten Hurenkleid unter dem Arm fort. Als sich im Laufe des Tages, wie hier ü b lich, die Nachricht von George Viccars’ Tod heru m sprach, wurde ich immer wieder von seinen Kunden unterbrochen, die Anspruch auf halb fertige Kle i dungsstücke erhoben. Ich konnte dabei lediglich das weitergeben, was er in seinem Delirium gesagt hatte. Doch niemand erklärte sich damit einverstanden, sein beziehungsweise ihr Kleidungsstück dem Feuer zu überantworten, auch wenn es nur aus einem Ha u fen zugeschnittener Stoffteile bestand. Am Ende ve r brannte ich nur seine eigene Kleidung. Als zu guter Letzt die Holzkohle in einem Funkenregen zusa m menfiel, brachte auch ich die Kraft auf, das Kleid, das er für mich gemacht hatte, in den Kamin zu we r fen. Grell schlugen zinnoberrote Flammen durch goldnes Grün.
Es war ein weiter Weg nach Bradford Hall, immer bergan. Als ich am selben Nachmittag dorthin zur Arbeit aufbrach, war ich müde wie noch nie. Und doch begab ich mich nicht direkt zum Herrenhaus, sondern lenkte meine Schritte in Richtung der Go w die-Hütte. Weder Anys und ihr »George« noch ihr scharlachrotes Kleid wollten mir aus dem Sinn. Normalerweise bin ich keine Klatschbase. Mir ist es egal, wer’s mit wem i n welchem warmen Stadel treibt. Und da George Viccars nun tot war, wäre es weder für mich noch für sonst jemanden irgendwie wichtig, wohin er vie l leicht seinen Schwanz gesteckt haben mochte. Trot z dem hatte ich es mir in den Kopf gesetzt herausz u finden, was zwischen ihm und Anys Gowdie vorgefallen war, und sei’s auch nur, um se i ne wahren G e fühle für mich einschätzen zu können.
Die Hütte der Gowdies stand einsam und allein am östlichen Ortsrand, hinter der Schmiede, kurz vor dem großen Riley-Hof . Sie war direkt an den Hügel gebaut und duckte sich vor den Winterwinden, die über die Moore heulten. Sie war winzig, bestand l e diglich aus zwei übereinander gesetzten Zimmern und war so schlecht gebaut, dass das windschiefe Strohdach obendrauf saß wie eine Mütze, die sich jemand über eine Augenbraue gezogen hat. Jedes der beiden winzigen Zimmer hatte eine niedrige Balke n decke, und zum Schutz der trocknenden Pflanzen herrschte immer Dämmerlicht. Zu dieser Jahreszeit schnitten die Gowdies ihre Sommerkräuter. Dicht an dicht hingen die Büschel von den Balken. Hinter der Türe konnte man nur noch gebückt gehen. Bei jedem meiner Besuche wunderte ich mich aufs Neue, wie es die hoch gewachsene Anys fertig brachte, an so e i nem Platz zu leben. Denn eines konnte sie sicher nicht: aufrecht stehen. Bei den Gowdies brannte ständig ein Feuer, auf dem sie ihre Tränklein brauten, und da der uralte Rauchfang des Kamins nur schlecht zog, war die Hütte ständig verqualmt und die Wände rußgeschwärzt. Aber wenigstens duftete der Rauch angenehm, da die Gowdies immer Rosmarin ve r brannten. Angeblich sollte er die Luft von allen Krankheiten reinigen, die Hilfe suchende Dorfb e wohner unversehens mitbringen könnten.
Auf mein Klopfen hin regte sich nichts. Also ging ich um die Steinmauer herum, die den Arzneigarten der Gowdies
Weitere Kostenlose Bücher