Das Pesttuch
könnte.
Sterbend umklammerte er das Bettlaken. Sanft lö s te ich jede Hand und streckte seine langen we l ken Finger. Schöne Hände waren das, weich, bis auf eine verhornte Stelle, die sich unter lebenslangen Nade l stichen verhärtet hatte. Beim Gedanken daran, wie geschickt sie sich im Feuerschein b e wegt hatten, stiegen mir Tränen in die Augen. Du weinst wegen dieser Vergeudung, redete ich mir ein, und weil diese Finger, die so viele Fertigkeiten gelernt hatten, nie wieder etwas Hübsches gestalten würden. In Wah r heit weinte ich vermutlich wegen einer ganz anderen Vergeudung und plagte mich mit dem Gedanken, warum ich fast bis zu seinem Tod gewartet hatte, um die Berührung dieser Hände zu spüren.
Ich faltete sie auf George Viccars’ Brust zusa m men, und Mr. Mompellion legte seine eigene Hand zu einem letzten Gebet darüber. Ich weiß noch, wie sehr es mich damals verblüffte, dass die Hand des Herrn Pfarrers so viel größer war – eher die Hand e i nes schwer arbeitenden Mannes als eine schlaffe weiße Priesterpfote. Dafür hatte ich keine Erklärung, da er in meiner Vorstellung aus einer Pfarrersfamilie kam und bis vor kurzem in Cambridge über seinen Büchern gesessen ha t te. Mister Mompellion und George Viccars waren fast gleich alt. Der Pfarrer war eben erst achtundzwanzig geworden. Und doch ha t ten sich bei genauerem Hinsehen in seinem Jun g männergesicht über den Brauen Falten eingegraben und neben den Augen sternfö r mig Krähenfüße – die Spuren eines Gesichtes, das beim Nachdenken oft die Stirn gerunzelt und in G e sellschaft viel gelacht hat. Wie schon gesagt, man könnte es für ein Durc h schnittsgesicht halten, aber vermutlich möchte ich damit ausdrücken, dass es seine Stimme war, die aufmerksam machte, und nicht sein Gesicht. Schon beim ersten Wort klang sie so bezwingend, dass man sich mit allen Gedanken nur auf die Worte konzen t rierte und nicht auf den Mann, von dem sie kamen. Es war eine Stimme voll Licht und Dunkel, ein Licht, das nicht nur schi m mert, sondern mächtig strahlt, ein Dunkel, das nicht nur Kälte und Furcht mit sich bringt, sondern auch Ruhe und Schatten spendet.
Danach blickte er mich an und sprach zu mir in e i nem seidigen Flüsterton, der sich wie ein wä r mendes Tuch über meinen Kummer zu breiten schien. Er dankte mir für meine Hilfe während der ganzen Nacht. Ich hatte mein Möglichstes g e tan, hatte kalte und heiße Kompressen zur Lind e rung von Fieber und Schüttelfrost gebracht, hatte Aufgüsse gebrüht, um die Luft in dem kleinen, übel riechenden Kranke n zimmer zu reinigen, ha t te Bettpfannen voller Galle und Pisse und schweißdurchtränkte Fetzen wegg e schafft.
»Es ist schwer«, sagte ich, »wenn ein Mensch u n ter Fremden sterben muss, ohne Familie, die um ihn trauert.«
»Der Tod ist immer schwer, wo auch immer er e i nen Menschen trifft. Und ein frühzeitiger Tod ist meist noch schwerer.« Er stimmte einen G e sang an, langsam, als ob er in seinem Gedächtnis nach den Worten suchte:
»Meine Wunden stinken und eitern,
Meine Lenden verdorren ganz,
und ist nichts Gesu n des an m einem Leibe.
Meine Lieben und Freunde treten zurück
und scheuen m eine Plage,
und meine Nächsten st e hen ferne …«
»Kennst du diesen Psalm, Anna?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein; er ist unschön und wird nicht hä u fig gesungen. Aber du hast dich vor George Viccars nicht gescheut, du bist nicht ferne gesta n den. Ich glaube, dass er seine letzten Wochen glücklich in deiner Familie verlebt hat. Du solltest dich mit der Freude trösten, die du ihm mit deinen Söhnen sche n ken konntest, und mit der Barmherzigkeit, die insb e sondere du gezeigt hast.«
Er meinte, er würde den Leichnam nach unten tr a gen, wo ihn der Küster, ein älterer Mann, leichter holen könne. George Viccars war hoch gewachsen und musste über zwanzig Kumpf g e wogen haben, aber Mister Mompellion hob dieses Totgewicht wie nichts auf und stieg mit dem schlaffen Körper auf den Schultern die Speiche r leiter hinab. Drunten legte er George Viccars so zärtlich auf ein Laken, wie ein Vater, der ein schlafendes Kind hinbettet.
Des Allmächtigen Donnerwort
D er Küster kam früh, um den Leichnam zu h o len. Da es keine Verwandten gab, würde man ihn einfach und rasch beerdigen. »Je früher, umso besser, was, Mistress«, meinte der Alte, während er die Leiche auf seinen Karren hievte. »Hier hat er nix mehr zu schaff’n. Zu spät, der näht sich kein
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