Das Pesttuch
gelacht und uns nacheinander von Kopf bis Fuß gemustert. »W e nig s tens habe ich keine solche Rotznase wie ihr. Und auch nicht jede Menge Pusteln auf der Haut.« Hoch aufg e schossen stand sie da, größer als jedes andere gleichal t rige Kind, vor Gesundheit strotzend. Als ich nicht la n ge danach zum ersten Mal guter Hoffnung war, war ich kleinlaut zu ihr gegangen und hatte sie um ihren Rat gebeten, welches Grünzeug ich sa m meln und essen könnte, um mich und das Baby, das ich in mir trug, zu kräftigen. Zuerst hatte dieses Zeug seltsam g e schmeckt, aber schon bald hatte ich seinen Nutzen ve r spürt.
Das Nesselbier war für mich allerdings etwas Neues. Die ersten Schlucke schmeckten mild und nicht unangenehm und wirkten auf meinen müden Körper erfrischend. Ich hielt den Becher länger als nötig an die Lippen, da ich mit meinem peinlichen Thema nicht überstürzt beginnen wollte. Aber meine Besorgnis erwies sich als unnötig. »Also, ich nehme doch an, du brennst darauf zu erfahren, ob ich mit George geschlafen habe«, begann Anys in gleichm ü tigem Tonfall. Der Becher zitterte in meiner Hand, die grüne Flüssigkeit schwappte auf den gefegten Erdboden. Anys lachte kurz auf. »Natürlich habe ich das. Er war zu jung und hübsch, um sein Feuer mit der Faust zu löschen.« Meine Miene bei diesen Wo r ten wage ich mir k aum vorzustellen, aber in den A u gen von Anys funkelte es amüsiert, während sie mich musterte. »Trink aus, dann fühlst du dich besser. Es war für uns beide nicht mehr als ein Mahl für einen hungr i gen Reisenden.«
Sie beugte sich vor, um Blätter umzurühren, die neben dem Feuer in einem großen schwarzen Kessel einweichten. »Mit dir hatte er andere Absichten. Wenn dich das umtreibt, dann sei unbesorgt. Er wol l te dich als Eheweib, Anna Frith, und ich sagte ihm, damit würde er gut fahren, falls er dich dazu überr e den könnte. Denn wie ich sehe, hast du dich seit Sam Friths Tod verändert. Meiner Ansicht nach gefällt es dir zu kommen und zu gehen, ohne dass ein Mann dazwischenredet. Ich sagte ihm, am ehesten könnte er dich über deine Buben gewinnen. Um die musst du dich ja, im Gegensatz zu mir, kümmern, das heißt, du kannst nie nur für dich leben.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie die beiden be i einander lagen und solche Dinge besprachen. »Aber warum«, platzte ich heraus, »warum hast du ihn denn nicht selbst geheiratet, wenn ihr schon so vertraut wart?«
»Ach, Anna!« Sie schüttelte den Kopf und lächelte wie bei einem begriffsstutzigen Kinde. Ich spürte, wie ich rot wurde. Was hatte ich gesagt? Worüber amüsierte sie sich so? Ich war verwirrt. Offensich t lich hatte sie meine Seelenqual gespürt, denn sie hö r te zu lächeln auf, nahm mir den Becher aus der Hand und schaute mich ernst an.
»Warum sollte ich heiraten? Ich bin nicht gescha f fen, um mich einem Mann mit Haut und Haar ausz u liefern. Ich habe meine Arbeit, die ich liebe. Ich habe mein Zuhause, auch wenn’s nicht groß ist, zugeg e ben. Und doch bietet es mir ausreichend Schutz. Aber darüber hinaus habe ich noch etwas, was nur wenige Frauen für sich beanspruchen können: meine Freiheit. Und die werde ich nicht leichtfertig opfern. Außerdem«, sagte sie, wobei sie mir einen listigen Seitenblick zuwarf, »braucht eine Frau manchmal einen kräftigen Schluck Nesselbier zum Aufwachen und manchmal ein Glas Baldriantee zur Beruhigung. Warum soll man in einem Garten nur eine einzige Pflanze züc h ten?«
Zum Zeichen, dass ich die Pointe verstand, läche l te ich zögernd. Tief drinnen spürte ich, dass mir e t was an ihrer guten Meinung lag und ich in ihren A u gen nicht als langweiliger Einfaltspinsel dastehen wollte. Danach stand sie auf, um weiter ihrer Arbeit nachz u gehen. So verließ ich sie noch verwirrter als bei me i ner Ankunft. Sie war ein seltenes Geschöpf, diese Anys Gowdie, und eines musste ich zugeben: Ich b e wunderte sie, weil sie mehr auf ihr eigenes Herz hörte, als ihr Leben von fremden Konventionen beherrschen zu lassen. Ich dagegen war unterwegs, um mich für den Nachmittag von Leuten beherrschen zu lassen, die ich verachtete. Ich stapfte weiter Ric h tung Bradford Hall und kam dabei am Rand der R i leyschen Wälder vorbei. Hell strahlte die Sonne an jenem Tag, die Bäume warfen dunkle, breite Scha t tenstreifen über den Pfad. Dunkel und hell, dunkel und hell, dunkel und hell. Genau so hatte man me i nen Blick auf die Welt geformt. Nach Ansicht der Puritaner, die sich hier
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