Das Pesttuch
als Geistliche um uns g e kümmert hatten, konnte alles Handeln und Denken nur zwei Seiten haben: göttlich und richtig, oder s a tanisch und böse. Aber Anys Gowdie brachte Ve r wirrung in solches Denken. Zweifelsohne tat sie G u tes. Das Wohlergehen unseres Dorfes war in vielerlei Hinsicht mehr ihrem Bemühen und dem ihrer Tante zu verdanken als den Bemühu n gen der jeweiligen Pfarrhausbewohner. Und doch stempelten ihre U n zucht und ihre Blasphemie sie in den Augen unserer Religion zur Sünderin.
All das ging mir immer noch im Kopf herum, als ich die Stelle erreichte, wo der Wald urplötzlich in die goldenen Felder des Riley-Hofes überging. Schon den ganzen Tag war man dort fleißig mit der Sichel am Arbeiten gewesen – zwanzig Mann für zwanzig Tagwerk. Die Hancocks, die das Land der Rileys bewirtschafteten, hatten selbst sechs kräftige Söhne und brauchten deshalb weitaus weniger Ernt e helfer als andere. Müde folgten Mutter Hancock und ihre Schwiegertöchter ihren Männern und bündelten die losen Halme zu Garben, die im Sonnenlicht schimmerten. An jenem Nachmittag sah ich sie durch die Augen von Anys: fest an ihr Mannsvolk gekettet, wie Ackergäule an die Pflugscharen.
Lib Hancock, die Frau des ältesten Bruders, war mit mir seit Kindertagen befreundet. Als sie sich e i nen Augenblick aufrichtete, um ihr Kreuz zu str e cken, beschattete sie mit der Hand die Augen. Dabei merkte sie, dass ich es war, die da am Feldrand d a herkam, winkte mir zu und rief etwas nach hinten zu ihrer Schwiegermutter. Dann ließ sie ihre Arbeit li e gen und kam quer übers Feld auf mich zu.
»Setz dich ein Weilchen zu mir, Anna!«, rief sie. »Ich muss unbedingt ausruhen.«
Da ich es nicht eilig hatte, zu den Bradfords zu kommen, spazierte ich mit ihr zu einer Grasb ö schung, auf die sie sich dankbar fallen ließ und einen Augenblick die Augen schloss. Ich rieb ihr die Schu l tern. Mit wohligem Behagen schnurrte sie unter meinen knetenden Handbewegungen.
»Ist wirklich ein Pech mit deinem Logiergast«, sagte sie. »Schien ein braver Kerl zu sein.«
»Das war er«, meinte ich. »Zu meinen Buben war er ungewöhnlich nett.« Lib legte den Kopf schief und warf mir einen merkwürdigen Blick zu. »Und zu mir natürlich auch«, fügte ich hinzu. »Wie zu allen.«
»Ich glaube, meine Schwiegermutter hätte ihn gerne für Neil gehabt«, sagte sie. Neil, das einzige Mädchen der Hancock-Familie, wurde von ihren vi e len Brüdern derart streng gehalten, dass wir oft scherzten, sie würde nie heiraten, da ihr kein Mann nahe genug käme, um festzustellen, wie sie aussah. Auf Grund meiner neuesten Erkenntnisse über George Viccars lachte ich trotz meiner Traurigkeit.
»Gibt es im ganzen Dorf eine einzige Frau, die sich nicht mit dem Bettzeug dieses Mannes beschä f tigt hat?«
Wie gesagt, Lib und ich standen uns nahe. Schon immer hatten wir unsere Geheimnisse miteinander geteilt. Vermutlich verführte mich diese Gewohnheit zu meinen nächsten Worten: eine deftige Beichte meiner eigenen Lust, wozu ich jedes Recht hatte. Doch danach folgte etwas, wozu ich nicht berechtigt war, jene Neuigkeit, die ich selbst gerade erst erfa h ren hatte: dass Anys es mit meinem Logiergast g e trieben hatte.
»Und jetzt, Lib«, sagte ich schließlich, während ich aufstand, um meinen Weg fortzusetzen, »habe ich eine Bitte: Tratsche meine Neuigkeiten heute Abend nicht im ganzen Hause Hancock herum.«
Darüber lachte sie und knuffte mich spielerisch in die Seite. »Oho, als ob ich vor Mutter Hancock und dieser Männerschar ständig Bettgeschichten erzählen würde! Du hast seltsame Ansichten über unseren Haushalt, wirklich. Am Tisch der Hancocks fällt nur einmal ein Wort über Paarung: Wenn die Hammel zu den Mutterschafen getrieben werden!« Daraufhin lachten wir beide und gingen wieder getrennter W e ge.
Am Feldrand standen sattgrüne Hecken mit glä n zendem Laub. Allmählich reiften auch schon die Brombeeren und röteten sich. Im üppigen Gras we i deten fette Lämmer. Doch trotz aller Lieblichkeit war für mich die letzte halbe Meile dieses Weges una n genehm, auch wenn ich nicht wirklich erschöpft war. Aber ich konnte die ganze Familie Bradford nicht ausstehen, und den Oberst fürchtete ich besonders. Außerdem konnte ich mich selbst nicht leiden, weil ich dieser Angst nachgab.
Allgemein hieß es, Oberst Henry Bradford sei ein tapferer und intelligenter Soldat gewesen, ein ung e wöhnlich heldenmutiger Anführer seiner Männer. Vielleicht
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