Das Pesttuch
zer r te an meinem Mieder herum. Tom öffnete seinen r o sa Mund und heulte empört, weil seine Mahlzeit u n terbrochen wurde.
Mit einem freundlichen Lächeln hob der Herr Pfarrer die Hand. »Er protestiert mit vollem Recht gegen mein Eindringen. Inkommodiere dich nicht, Anna. Tut mir Leid, dich derart überrascht zu haben, aber ich war dermaßen in mein Buch und in diesen zauberhaften Tag versunken, dass ich mir der Anw e senheit eines anderen Menschen im Wäldchen nicht bewusst wurde.«
Das plötzliche Auftauchen des Herrn Pfarrers hatte mich so überrascht und verlegen gemacht, dass ich zu keiner höflichen Antwort fähig war. Noch mehr erstaunte es mich, als er daraufhin nicht weiterging, sondern sich auf einen Nachbarfelsen setzte und se i ne Stiefel auszog, um seinen Füßen Kühlung zu ve r schaffen. Mit gewölbten Händen beugte er sich ins klare Wasser, spritzte sich kühles Nass ins Gesicht und fuhr sich d ann mit den Fingern durch die langen schwarzen Haare. Im Halbschatten hob er sein G e sicht in die Sonne und schloss die Augen.
»Wie einfach verspürt man an einem solchen Tage Gottes Güte!«, flüsterte er. »Manchmal frage ich mich, warum wir uns in Kirchen einschließen. Kann ein Bau von Menschenhand das Göttliche so herau f beschwören wie dieser Platz?«
Da ich noch zu aufgewühlt war, um mir eine An t wort auszudenken, verharrte ich weiter in dummem Schweigen, während Tom lauthals weiterbrüllte. Mister Mompellion sah, wie er sich in meinen A r men wand, und griff dann herüber, um ihn mir we g zunehmen. Verblüfft reichte ich ihn hinüber. Doch noch mehr erstaunte mich die geübte Art, wie ihn Mister Mompellion aufrecht gegen seine Schulter hielt und ihm kräftig den Rücken klopfte. Auf der Stelle hörte Tom mit dem Schreien auf und stieß e i nen lauten, nassen Rülpser aus. Hochwürden lachte. »Bei der Betreuung meiner kleinen Schwestern habe ich gelernt, dass mit Ausnahme von Mutter und Amme jeder ein Baby so halten muss. Aufrecht. Dann hört das Suchen nach der Brust auf.« Diese Bemerkung musste bei mir einen erstaunten Blick hervorgerufen haben, denn nach einem kurzen Se i tenblick auf mich lachte Mister Mompellion erneut. »Du musst nicht glauben, dass sich das Leben eines Geistlichen ausschließlich zwischen hehren Kanze l worten bewegt.« Er deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo Jamie bachabwärts so in den Bau se i nes Steckendammes vertieft war, dass er die Anw e senheit des Herrn Pfarrers lediglich mit einem kurzen Heben des Kopfes registriert hatte. »Wir alle gle i chen zu Beginn nackten Kindern, die im Schlamm spielen.«
Mit diesen Worten gab er mir Tom zurück, stand auf und ging zu Jamie. Auf halbem Weg setzte er den Fuß auf einen glitschigen, moosbewachsenen Stein. Beim Versuch, sein Gleichgewicht wieder zu finden, ruderte er wie verrückt mit den Armen, und Jamie hüpfte im Wasser hoch und lachte so wild und unverblümt schadenfroh, wie das nur Dreijährige können. Stirnrunzelnd funkelte ich Jamie an, aber Mister Mompellion warf den Kopf zurück und stimmte in das Lachen ein, während er mit ausg e streckten Händen mitten durchs Wasser platschte, meinen quiekenden Kleinen schnappte und ihn hoch in die Luft warf. So spielten die zwei einige Zeit mi t einander, ehe Mister Mompellion zu mir und Tom zurückkam und sich wieder in unserer Nähe auf die Böschung setzte. Seufzend schloss er erneut die A u gen. Ein leises Lächeln spielte um seine Lippen.
»Mir tun alle Stadtbewohner Leid, denen die Liebe zu all dem nicht beigebracht wird – zum süßen Duft von nassem Gras und den ganz gewöhnlichen, alltä g lichen Wundern der Schöpfung. Darüber las ich g e rade, als ich dich störte. Möchtest du einige Zeilen aus meinem Text hören?«
Ich nickte, und er griff nach seinem Buch. »Das sind die Schriften des Augustinus von Hippo, ein Mönch, der vor langer Zeit an der afrikanischen Ba r barenküste wegen seiner Theologie berühmt wurde. Hier fragt er sich selbst, was wir meinen, wenn wir von Wundern sprechen.«
Ich kann mich nur noch an Bruchstücke von dem erinnern, was er las, aber ich erinnere mich genau, wie seine Stimme mit den Rhythmen des Baches zu verschmelzen und den Worten eine bleibende Musik zu verleihen schien. »Denke an den Wechsel von Tag und Nacht … an das Absterben der Blätter und ihr Wiedererscheinen an den Bäumen im nächsten Frü h jahr, an die unendliche Kraft in den Samen … und dann nenne mir irgendeinen Menschen, der diese Dinge zum
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