Das Pesttuch
Mutterschaf seine Lämmer bei sich und keines sich in Dornenranken verfangen hatte. Wenn ich also nachmittags die He r de überprüfen ging, nahm ich Jamie und Tom mit. Unsere Herde ist klein, hat nur einundzwanzig Mu t terschafe. Seit meiner Heirat mit Sam hatte ich r e gelmäßig jenes geschlachtet, das sich nicht zum Mu t tertier eignete, was zu einer einfachen Lammung führt, solange das Wetter mitspielt. Letztes Frühjahr hatten wir eine gute Lammung. Deshalb hätte ich an jenem Tag nichts weniger erwartet als ein Mutte r schaf in den Wehen. Aber zum Glück fanden wir es, wie es keuchend im Schatten einer Eberesche lag und sich mit heraushängender Zunge abmühte. Ich knöp f te das Tragetuch auf und legte Tom auf einen Fl e cken Klee. Jamie stand hinter mir, während ich mich hinkniete, die Hände ins Innere des Mutterschafes steckte und das Lamm zu drehen versuchte. Obwohl ich ein Stückchen Nase und einen harten Huf spüren konnte, gelang es mir nur mühsam, alle Finger hi n einzuzwängen, damit ich es zu fassen bekam.
»Mami, kann ich helfen?«, sagte Jamie. Nach e i nem Blick auf seine winzigen Finger bejahte ich. Mühelos glitten seine kleinen Hände ins Glitschig-Feuchte. Ich stemmte mich mit den Fersen gegen das Mutterschaf, und dann zogen wir gemeinsam. Er hielt mit seiner Kinderkraft die Knie fest, während ich mich an den Hufen abmühte. Plötzlich flog mit einem mächtigen Schmatzgeräusch ein Bündel na s ser Wolle heraus, und wir beide fielen r ücklings ins Gras. Es war ein prächtiges Läm m chen, klein, aber kräftig, ein unerwartetes Geschenk. Das Mutterschaf war noch jung und hatte nie vorher gelammt. De s halb sah ich mit Befriedigung, wie es sich sofort da r an machte, seinem Jungen die Glückshaube vom G e sicht zu lecken. Schon bald bedankte sich das Lamm mit einem kräftigen Niesen. Wir lachten. Jamie hatte vor Stolz und Glück kugelrunde Augen.
Wir ließen die Mutter weiter ihrem Jungen die gelbe Fruchtblase aus dem Fell lecken und wande r ten vom Feld ins Wäldchen, um uns im Bach Blut und Schleim von Händen und Kleidung zu waschen. Weil es heute warm war, zog ich Jamie splitternackt aus und ließ ihn so herumplantschen, während ich seinen Kittel und meine Schürze auswusch und zum Trocknen über einen Busch hängte. Meinen Schu l terkragen hatte ich gelöst, meine Haube aufgebunden und die Strümpfe ausgezogen. Während Jamie durchs Wasser watete, fand ich einen flachen Felsen, setzte mich mit geschürztem Rock drauf, um Tom zu stillen, und ließ mir kleine Rinnsale über die Zehen laufen. Ich streichelte den feinen Flaum auf Toms Kopf und schaute zu, wie Jamie im kühlen Wasser herumspritzte. Kürzlich hatte er ein Alter erreicht, in dem eine Mutter bei einem Blick auf ihr Baby en t deckt, dass es keines mehr ist, sondern ein voll en t wickeltes Kind. Alles Runde hatte sich in die Länge gezogen: Die fetten, faltigen Beinchen hatten sich zu schlanken Gliedmaßen gestreckt, der Kugelbauch zu einem kerzengeraden Oberkörper gedehnt. Aus den Pausbacken hatte sich ein Gesicht herausgeschält. Nur allzu gerne betrachtete ich Jamies neues Ich, se i ne glatte Haut, die Biegung seines Nackens und se i nen Goldschopf, der sich stets mit geneigtem Hals neugierig staunend in immer neue Wunder seiner Welt vertiefte.
Gerade hüpfte er auf der Jagd nach pfeilschnellen Libellen von Stein zu Stein und ruderte dabei heftig mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu ve r lieren. Vor meinen Augen landete eine davon auf einem Ast neben meiner Hand. Ihre durchsichtigen Flügel fingen das Licht in allen Regenbogenfarben, wie die bunten Glasfenster in unserer Kirche. Sachte legte ich einen Finger auf den Zweig und spürte das schnelle Zittern und hörte das leise Brummen, das von ihren vibrierenden Fl ü geln aufstieg. Dann hob sie ab und stürzte sich auf eine vorbeifliegende We s pe. Fadendünn hatten ihre Beine gewirkt, und doch schlossen sie sich wie eine Eisenfalle um die Wespe. Noch im Flug packte sie das Insekt mit ihren mächt i gen Beißzangen und ve r schlang es. So geht das, dachte ich träge. Eine Geburt und ein Tod, beides unerwartet.
Ich lehnte mich gegen das Bachufer und schloss die Augen. Einen Augenblick war ich wohl eing e nickt, sonst hätte ich sicher die nahenden Schritte unter den Bäumen gehört. Aber so stand er fast schon über mir, als ich die Augen öffnete und seinem Blick begegnete, der sich von dem aufgeschlagenen Buch hob, das er in der Hand trug. Ich sprang auf und
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