Das Pesttuch
erwidern, die uns aufnehmen, wenn wir ihnen die Pestsaat mi t brächten? Welche Last würden wir tragen, wenn w e gen uns Hunderte stürben, die vielleicht leben kön n ten? Nein! Nehmen wir dieses Kreuz auf uns! Ertr a gen wir es im heiligen Namen Gottes!« Die Stimme des Pfarrers war immer mächtiger geworden, bis sie wie eine Glocke dröhnte. Jetzt aber verfiel er wieder in einen intimen Tonfall, wie ein Liebender, der sich an seine Geliebte wendet. »Liebe Freunde, hier sind wir, und hier müssen wir bleiben. Lasst die Grenzen dieses Dorfes zu unserer ganzen Welt werden. Lasst keinen herein und niemanden hinaus, solange diese Pest wütet.«
Damit kam er zu den Einzelheiten seines Plans für unsere freiwillige Belagerung, über die er offensich t lich bereits intensiv nachgedacht hatte. Er sagte, er habe in einem Brief an den Grafen im wenige Meilen entfernten Chatsworth House seinen Vorschlag erö r tert und um Hilfe gebeten. Der Graf habe sich ve r pflichtet, im Falle einer freiwilligen Klausur uns alle auf seine Kosten mit dem Nötigsten an Nahrung, Brennmaterial und Arznei zu versorgen. Diese S a chen würde man am Grenzstein am südöstlichen Dorfrand hinterlegen, wo sie erst eingesammelt we r den dürften, wenn die Fuhrleute, die sie gebracht ha t ten, außer Reichweite waren. Wer weitere Dinge kaufen wollte, müsse das Geld entweder in einem flachen Brunnen nördlich von Wright’s Wood hinte r lassen, wo das fließende Wasser jede Pestsaat for t spülen würde, oder in den Höhlungen des Gren z steins, die man mit Essig füllen würde, denn der sol l te angeblich eine Ansteckung verhindern.
»Liebe Brüder und Schwestern im Herrn, denkt an die Worte des Propheten Jesaja: › Wenn ihr umkehret und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Sti l lesein und Hoffen würdet ihr stark sein. ‹ « Er hielt inne und wiederholte den Vers: »Durch Still e sein und Hoffen.« Er ließ die Stimme zu einem Flü s tern herabsinken. »Durch Stillesein und Hoffen … Ist dies nicht der Zustand, den wir uns alle wünschten?« Aus dem Flüstern wurde Schweigen. Ja, nickten wir, n a türlich war es das. Aber dann kehrte seine Stimme zurück und dröhnte in jene Stille, die er selbst g e schaffen hatte. »Aber die Israeliten hofften nicht, sie hielten nicht stille. Das erzählt uns Jesaja mit den Worten: › Aber ihr wollt nicht, und sprechet: › Nein, sondern auf Rossen wollen wir fliehen … Und auf Rennern wollen wir reiten … Denn euer tausend werden fliehen vor eines einigen Schelten; ja, vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis dass ihr übrig ble i bet wie ein Mastbaum oben auf einem Berge und wie ein Panier oben auf einem Hügel. ‹ Nun, meine g e liebten Brüder und Schwestern im Herrn, ich sage, wir so l len nicht fliehen wie die treulosen Israeliten! Nein, nicht wenn fünf oder z ehn oder sogar zwanzig Tode drohen. Denn die Einsamkeit erwartet den, der flieht. Einsamkeit – wie ein Mastbaum oben auf e i nem Berge. Einsamkeit und Ausgestoßensein. Jenes Ausgestoßensein, das seit jeher das Los des Lepr a kranken war. Einsamkeit, Ausgestoßensein und Angst. Die Angst wird euer beständiger Begleiter sein, und sie wird mit euch sein, Tag und Nacht.
Geliebte Brüder und Schwestern im Herrn, ich h ö re euch in euren Herzen sagen, dass wir längst Angst haben. Angst vor dieser Seuche und dem Tod, den sie bringt. Aber ihr werdet diese Angst nicht hinter euch lassen. Sie wird euer Gefährte sein, wohin ihr auch geht. Und unterwegs wird sie sich zu einer ga n zen Schar neuer und größerer Ängste zusammenba l len. Denn wenn ihr im Hause eines Fremden e r krankt, wird man euch vielleicht die Türe weisen, euch im Stich lassen und euch einsperren, um euch einem einsamen Sterben zu überlassen. Euch wird dürsten, und niemand wird euren Durst stillen. Laut aufschreien werdet ihr, aber eure Schreie werden in der leeren Luft verwehen. Im Hause jenes Fremden erwartet euch nur eines: Vorwürfe. Denn man wird euch gewiss bezichtigen, dass ihr dies über sie g e bracht habt. Und zu Recht! Und in der Stunde, in der ihr der Liebe am meisten bedürft, werden sie euch mit Hass überschütten!«
Jetzt klang die Stimme beruhigend aus: »Bleibt hier, an dem euch wohl bekannten Ort, an einem Ort, wo man euch kennt. Bleibt hier, auf diesem Stück Erde, das euch bisher ernährt hat. Bleibt hier, dann werden wir hier füreinander eintreten. Bleibt hier, dann wird die Liebe des Herrn mit uns sein. Bleibt hier, meine besten
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