Das Pesttuch
euch: Ihr habt den ganzen Boden dieses Dorfes geweiht! Durch euer Opfer habt ihr ihn geweiht, hier und jetzt! Gott wird euch finden! Er wird euch um sich sch a ren! Er ist der Gute Hirte und wird nicht den G e ringsten seiner Herde im Stiche lassen!«
Jetzt war die Anstrengung zu viel für ihn. Er sen k te die Hände, um sich am Kanzelgeländer festzuha l ten, fand aber keinen Halt. Ohnmächtig sank er zu Boden.
Elinor und ich stürzten nach vorne, während die Gemeinde in Wehklagen und Weinen ausbrach. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn Mister Sta n ley nicht vorgetreten wäre und mit einer Stimme, die sein Alter Lügen strafte, »Ruhe!« gebrüllt hätte.
In die plötzliche Stille hinein hielt er eine Predigt, die mich an meine Kindheit erinnerte. Aufs Strengste verurteilte er den Aberglauben und wetterte gegen unreformierten Papismus, der sich immer noch in unseren Herzen herumtrieb. »Wenn eure Kuh stirbt und ihr sie auf eurem Feld eingrabt, pflügt ihr sie dann ein Jahr später wieder heraus, weil ihr verge s sen habt, wohin ihr sie gelegt habt? Nein! Kein fäh i ger Verwalter würde einen solchen Fehler machen. Nun denn, wenn ihr also ein geliebtes Kind beerdigt, werdet ihr euch dann nicht jeden Tag eures Lebens daran erinnern, wo ihr es begraben habt? Ja, sagt ihr wieder. Wie könntet ihr das vergessen? Welche Na r retei bringt euch dann auf den Gedanken, der al l mächtige Gott in Seiner unendlichen Macht und Weisheit könnte in irgendeiner Weise Mühe haben, diese Gr ä ber zu finden, die Gräber Seiner Herde, die Gräber Seiner Kinder, die wir jetzt aus reiner No t wendigkeit in alle Winde verstreuen.
Lasst euer klägliches Weinen! Erhebet eure Sti m men! Lasst uns den achtundachtzigsten Psalm singen und uns in Erinnerung rufen, dass wir nicht die Ei n zigen sind, die Gott geprüft hat. Und dann geht heim in Frieden und versammelt euch am nächsten Son n tag im Cucklett Delf.«
Der junge Brand war Mister Mompellion zu Hilfe geeilt. Nun stützte er den benommenen Pfarrer auf seinem Weg die Stufen hinab, während in der Kirche die Gläubigen das verzweifeltste aller Gebete um Heilung bei Krankheit anstimmten:
»Herr, Gott, mein Heiland,
ich schreie Tag und Nacht v or dir.
Ich bin geachtet gleich denen,
die in die Grube fahren …
Meine Freunde hast Du fern von mir getan,
Du hast mich ihnen zum Gräuel gemacht.
Ich liege gefangen und kann nicht auskommen.«
Hinter uns fiel die schwere Kirchentüre ins Schloss. Aber Michael Mompellion, der mit Brands Hilfe Richtung Pfarrhaus taumelte, flüsterte den Psalm mit seiner gebrochenen und müden Stimme weiter:
»Und mein Gebet kommt frühe vor Dich.
Warum verstoßest Du, Herr, meine Seele
und ve r birgst Dein Antlitz vor mir?«
Drinnen im Haus wurde uns klar, dass wir ihn nur mit Mühe die Treppe hinaufschaffen könnten. De s halb liefen Elinor und i ch ins Schlafzimmer und brachten einige Daunendecken herunter, um im S a lon ein Lager zu bereiten. Als ihm Brand beim Hi n legen half, rezitierte er noch immer:
»Ich leide Dein Schrecken,
dass ich schier verz a ge.
Dein Grimm gehet über mich,
Dein Schrecken drücket mich.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und überließ sich endlich dem Schlaf der Erschöpften.
Am nächsten Nachmittag raffte er sich auf, zwei Sterbelager zu betreuen, während Elinor und ich übereinkamen, ihm eine weitere Neuigkeit zu ve r heimlichen, die eher die Lebenden betraf. Angesichts von so viel T od ring s um uns war es schwer, irgen d einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden, geschweige denn an materielle Dinge, und doch b e lastete mich die Zukunft eines Kindes schon seit la n gem: die Zukunft eines neunjährigen Mädchens n a mens Merry Wickford.
George und Cleath Wickford, ein junges Quäke r paar mit drei Kindern, hatten sich vor gut fünf Jahren in einer verlassenen Hütte am Dorfrand angesiedelt. Sie stammten aus dem schottischen Tiefland und w a ren wegen ihres eigenartigen Glaubens von ihrem Pachthof vertrieben worden. Auch hier hatte man sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen, aber wenigstens mussten sie nicht befürchten, dass ihre Raufen angezündet und ihr Geflügel vergiftet wurde, was ihnen angeblich an ihrem früheren Platz passiert war. Bis zu einer Sommernacht vor einem Jahr ha t ten sie ein bettelarmes Leben gefristet. George Wic k ford war noch spät auf gewesen und herumgelaufen. Die Sorge, wie er seine Familie durchfüttern sollte, ließ ihn nicht
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