Das Pesttuch
Gesichter gab.
Seit dem Sonntagseid hatte Mister Stanley auch weiterhin die Gottesdienste von Mister Mompellion besucht, und inzwischen waren sogar die Familie Billings und einige andere Nonkonformisten g e kommen. Auch wenn sie nicht alle Lieder mitsangen und den Worten des Buches für das gemeinsame G e bet folgten, so war es doch ein Wunder, dass sie sich überhaupt zu uns gesellten. Offensichtlich war ich nicht die Einzige, die darüber froh war.
Am ersten Märzsonntag schickte sich Michael Mompellion ins Unvermeidliche und schloss die Ki r che. An jenem Morgen mühte er sich mit letzter Kraft, auf der Kanzel stehen zu bleiben. Weiß hoben sich seine Knöchel vom Eichenholz ab. Elinor hatte darauf bestanden, dass ich aufrückte und ihre Bank teilte. Sie meinte, mittlerweile sei ich ein Teil der Pfarrfamilie. Deshalb war ich nahe genug, um zu s e hen, wie er am ganzen Körper vor Erschöpfung zi t terte, und ich sah auch die tiefen Falten in seinem Gesicht, während er mühsam um seine Stimme rang.
»Meine lieben Freunde«, sagte er, »Gott hat uns in diesen Monaten schmerzlich auf die Probe gestellt. Ihr habt Seine Prüfung mutig angenommen. Seid e u res Lohnes dafür gewiss. Wie wir alle hatte auch ich zu hoffen gewagt, dass diese Prüfung nicht so lange und so hart ausfallen würde, wie sie es tat und weiter tut. Aber wer kann sich erdreisten, Gottes Gedanken zu lesen? Wer kann Seinen großartigen Plan in allen Feinheiten verstehen? Nicht immer deutet Er Seine Absichten an, sondern lässt uns im Dunkeln, sodass wir Sein Gesicht suchen und Ihn anflehen müssen, damit Er sich uns in Seiner Gnade offenbart. Gelie b te im Herrn, verliert über dieser unserer Sache Gottes große Liebe und Zärtlichkeit nicht aus den Augen. Denn ihr alle, die ihr eure Kinder liebt, wisst, dass auch Züchtigung ein lebendiger Ausdruck eurer So r ge um sie sein kann. Wer lässt schon seine Kinder aufwachsen, ohne sie manchmal durch Bestrafung auf den rechten Weg zu bringen? Nur ein nachläss i ger Vater. Und doch runzelt ein guter Vater in so l chen Zeiten nicht wutentbrannt die Stirn, sondern erteilt die notwendigen Strafen mit liebendem Blick, in der Hoffnung, dass sich seine Kinder bessern.«
Jetzt hielt er inne und versuchte, seine Kräfte zu sammeln. »Meine lieben Freunde, bald schickt uns Gott eine neue Prüfung, vielleicht die härteste, der wir uns je gegenübersahen. Denn schon bald wird es hier wieder wärmer. Und diese Pest – das wissen wir aus alten Berichten von Überlebenden –, diese Pest gedeiht in der Wärme prächtig. Wir können nur ho f fen und beten, dass ihr Wüten hier bereits dem Ende zugeht; darauf bauen können wir nicht. Meine g e liebten Freunde, nun müssen wir uns gegen die Mö g lichkeit wappnen, dass uns das Schlimmste vielleicht noch bevorsteht. Und wir müssen demgemäß Anor d nungen treffen.«
Während seiner Predigt stöhnten die in der Kirche verstreuten Menschen auf. Einige begannen zu we i nen. Als er sagte, er müsse die Kirche schließen, begann auch Mister Mompellion zu weinen. In se i ner Erschöpfung konnte er nicht mehr gegen die Tränen ankämpfen. »Verzweifelt nicht!«, rief er und rang sich ein Lächeln ab. »Eine Kirche ist nicht nur ein Gebäude! Unsere Kirche werden wir behalten! Wir werden uns unter dem Himmelszelt treffen und mi t einander beten, im Cucklett Delf, wo die Vögel unser Chor, die Steine unser Altar, die Bäume uns e re Kirchtürme sein werden! Freunde, im Steinbruch können wir in sicherem Abstand voneinander st e hen, damit die Kranken nicht die Gesunden anst e cken.«
Ungeachtet des Tenors seiner Worte verhärmte sich sein Gesicht noch mehr, als er zu jenem Teil seiner Botschaft kam, der uns am härtesten treffen würde. »Geliebte im Herrn, wie unsere Kirche mü s sen wir auch unseren Kirchhof schließen. Inzwischen ist es unmöglich, unsere Toten rechtzeitig zu begr a ben. Und mit dem Anbruch des warmen Wetters wird das Ungebührliche zur Gefahr. Geliebte im Herrn, wir müssen die bittere Bürde auf uns nehmen, unsere eigenen Toten so rasch wie möglich zu begr a ben, in der nächstbesten Erde …«
Jetzt heulten alle laut auf und schrien entsetzt: »Nein!«
Er hob die Hand und bat um Ruhe. »Geliebte im Herrn, ich kenne eure Befürchtung, glaubt mir, ich kenne sie. Ihr befürchtet, Gott wird keinen finden, den man außerhalb geweihter Erde zur Ruhe bettet. Ihr fürchtet, eure Lieben wären in Ewigkeit für euch verloren. Aber am heutigen Tage sage ich
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