Das Pesttuch
Erlös seiner ersten Bleifuhren hatte er in besseres Hauwerkzeug gesteckt und für seine Familie ordentliche Nahrungsmittel und Kle i dung gekauft, die sie so lange hatten entbehren mü s sen. Aber der wahre Reichtum der Grube steckte noch im Boden. Doch der schien für Merry verloren zu sein. Es sei denn, jemand würde einen Zentner Blei für sie fördern. Während die Tage verstrichen, lag ich jedem Hauer, den ich gut genug kannte, mit der Frage in den Ohren, ob nicht einer von ihnen e i ner Waise diesen Gefallen tun würde. Aber selbst der beste Mann meinte, er müsse eher zu David Burton stehen als zu einem Kind, dessen Familie weder zu den Leuten vom Peakrill gehörte noch ihren Glauben hatte. Und so schwanden mit den Wochen auch die Chancen des Kindes, bis das Ende der neunten W o che näher rückte und schließlich nur noch ein Tag zwischen ihr und einer trostlosen Zukunft im A r menhaus stand.
Vermutlich hätte ich es besser wissen sollen, a n statt diesen Fall bei Elinor zur Sprache zu bringen. Oder sagen wir, der darauf folgende Vorschlag hätte mich nicht überraschen sollen. »Anna, von Erzadern verstehst du etwas. Wir beide, du und ich, werden diesen Zentner für das Kind herausholen.«
Doch dieser Vorschlag stieß bei mir auf noch w e niger offene Ohren als ihre frühere Aufforderung, ich solle bei Mary Daniel Hebamme spielen. Schon la n ge ehe das Erz meinen Sam holte, habe ich mich vor den Gruben gefürchtet. Für düsterfeuchte, stickige Orte bin ich nicht geschaffen. Ich liebe alles, was auf der Erdoberfläche lebt und wächst. Die Eingeweide d ieses ausgehöhlten Landes sind mir egal. Ich habe Sam nie gebeten, mich in die Grube mitzunehmen. Wahrscheinlich hätte er es auch gar nicht getan, auch wenn er mir nie eine Bitte abgeschlagen hat. Ber g leute sind abergläubisch, und viele glauben, in jeder Grube wohne ein Elfkobold, der auf seinen Hauer eifersüchtig ist und dessen Frau nicht mag.
Aber Elinor hatte jenen Gesichtsausdruck, den ich inzwischen nur allzu gut kannte. Jemandem, der es nicht selbst gesehen hat, kann man nur schwer b e schreiben, wie sich ihre feinen Gesichtszüge derart verändern konnten. Ich habe gelesen, die Griechen hätten Marmorbildnisse angefertigt, dass der Stein zu atmen schien. In diesen Berichten stand, die steine r nen Bildnisse hätten lebendigem Fleisch zum Ve r wechseln ähnlich gesehen. Wenn ich’s recht bede n ke, glich Elinors Gesicht vielleicht einer dieser Ma r morfiguren, wenn sie zu etwas entschlossen war, was sie für richtig hielt. Jedenfalls wusste ich nun, dass wir uns auf den Weg zur Wickford-Grube machen würden, ob ich wollte oder nicht.
Wir brachen früh auf, denn die Grube liegt weit vom Dorf entfernt. Ich hörte Elinor in der Bibliothek mit Mister Mompellion sprechen und ihm sagen, wir gingen auf die Suche nach fehlenden Kräutern. Als sie aus dem Zimmer kam, fiel mir auf, dass ihre durchsichtige Haut ganz erhitzt war. Unter meinen Blicken flatterte ihre Hand an den roten Hals.
»Nun gut, Anna, dann werden wir also Taschen mitnehmen, um unterwegs geeignete Pflanzen zu sammeln.« Man konnte deutlich erkennen, wie viel selbst die winzigste Heimlichkeit oder ein Hauch von Trug sie kostete, sogar wenn diese Lüge lediglich dem Wohlergehen ihres Mannes galt. »Denn eines weißt du ja nur zu gut«, fügte sie hinzu, »wenn er von unserem wahren Plan für heute Wind bekommt, wird er darauf bestehen, sich selbst an dieser Arbeit zu versuchen. Und das wäre bei seiner gegenwärt i gen Erschöpfung vermutlich sein Ende.«
Zuerst begaben wir uns zur Wickfordschen Hütte, um dem Kind Merry unseren Vorschlag zu unterbre i ten. Als wir den matschigen Pfad zu ihrer Hütte hi n aufkletterten, stürzte sie mit freudestrahlendem G e sicht zur Tür heraus. Was lebten wir doch in mer k würdigen Zeiten, in denen wir ein so kleines Kind einfach einem Leben allein in seiner Behausung überließen! Ich hatte zwar daran gedacht, sie mit zu mir nach Hause zu nehmen, hatte mich aber dann dagegen entschieden. Hier draußen, in einiger En t fernung zum Dorf, schien sie sicherer und gesünder zu leben, als wenn sie täglich mit Pestopfern zusa m menkam.
Irgendwie gelang es ihr zu überleben, ja, sie g e dieh sogar prächtig. Selbst jetzt war sie ein Kind, das vor Gesundheit strotzte: mit rosigen Pausbacken, e i nem tiefen Grübchen am Kinn und einem dunklen Lockenschopf, der auf und ab wippte, während sie um uns herumtanzte. Drinnen in der Hütte sah ich auf dem Tisch
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