Das Pesttuch
kümmerte.
Gemeinsam gingen wir zum Haus der Unwins. Unterwegs erkundigte sich der Herr Pfarrer ausfüh r lich nach meiner gestrigen Arbeit: Wen ich besucht hätte, und wie es den Leuten ginge, welchen Trank ich verordnet hätte, und was mir am nützlichsten e r schiene. Im Laufe der letzten Wochen hatte ich me i ne Scheu in seiner Gegenwart verloren und konnte mich freier mit ihm unterhalten. Er erzählte mir von den Leuten, die er besucht hatte, doch dann seufzte er tief auf. »Wie merkwürdig ist es doch, Anna. Den gestrigen Tag habe ich innerlich als guten Tag a b gehakt, obwohl er übervoll war mit tödlicher Kran k heit und der Trauer über jüngste Todesfälle. Und doch ist es ein guter Tag, aus dem einfachen Grund, weil keiner gestorben ist. Wirklich, wir leben in e i nem kläglichen Zustand, wenn wir das Gute mit e i nem so kurzen Zollstock messen.«
Das Haus der Unwins stand neben dem Dorfanger. Als wir an dem überwucherten Platz vorbeigingen, deutete der Herr Pfarrer mit dem Kopf auf den Pra n ger. Eine Efeuranke hatte sich durch eines der Fußl ö cher geschlungen. Auf den Riegeln blühte der Rost. »Ich möchte sagen, auch das könnte man zu den g u ten Dingen rechnen, die diese grimmige Zeit mit sich gebracht hat: Pranger, Schandstuhl und alle anderen barbarischen Werkzeuge sind außer Gebrauch ger a ten. Wenn ich doch nur die Leute hier überzeugen könnte, dies auch nach dieser Prüfung beizubeha l ten.«
Wir hatten das Tor der Unwins erreicht. Das Haus stand, von der Straße zurückgesetzt, in einem eh e mals hübschen Garten. Viele Jahre hatte die Familie aus ihrer Bleiader Gewinn geschöpft. Stattliche A n bauten hatten ihr Haus zu einem der schönsten im Dorf gemacht. Jetzt, nach so vielen Todesfällen, wirkte der Ort bedrückt und vernachlässigt. Im Laufe der schweren Prüfungen, die diese Familie getroffen hatten, war der Herr Pfarrer häufig hier zu Besuch gewesen. Nun ließ er sich selbst zur Vordertüre ein und rief zu Christopher hinauf, der allein in jenem Zimmer lag, das er bis vor kurzem mit seiner Frau und ihrem kleinen Sohn geteilt hatte. Mit schwacher Stimme antwortete der junge Mann. Aber schon a l lein, dass er antwortete, war eine große Erleicht e rung.
Während ich einen Becher aus der Anrichte holte, um dem Kranken etwas Fruchtsaft einzugießen, ging der Herr Pfarrer nach oben ins Schlafzimmer. Als ich wenige Augenblicke später eintrat, stand er mit dem Rücken zu mir am Fenster und starrte auf das Feld der Unwins hinaus. Mir fiel auf, dass er seine Fäuste seitlich verkrampft hatte, als ob ihn der Anblick he f tig errege. Als er sich umdrehte, erkannte ich, dass es tatsächlich so war. Finster schaute er unter zusa m mengezogenen Augenbrauen hervor.
»Wie lange geht das schon?«, wollte der Herr Pfarrer von Christopher wissen, der an einem Polster lehnte und weniger krank aussah, als ich erwartet hatte.
»Seit kurz nach Sonnenaufgang. Das Geräusch seines Spatens hat mich geweckt.«
Nun trieben mir Scham und Zorn gleichermaßen die Röte ins Gesicht. Ich trat ans Fenster. Unten sah ich meinen Vater bis zum Bauch in der halb ausg e schaufelten Grube stehen. Ich konnte mir gut vorste l len, wie sein gieriger Blick bereits die Beute zählte, die er aus dem Haus der Unwins schleppen würde. Wer würde schon gegen seinen Diebstahl Einspruch erheben, wenn erst der junge Christopher bei seiner Familie unter der Erde läge? Von einem war ich i n zwischen überzeugt: Schon die Tatsache, dass mein Vater draußen grub, hatte den jungen Mann dazu g e bracht zu glauben, sein Zustand hätte sich ve r schlechtert. Doch seine Mimik war rege, er hatte eine gesunde Hautfarbe, und ich konnte keinerlei Pestze i chen an ihm erkennen.
»Ich werde gehen und mit meinem Vater reden«, erklärte ich dem Herrn Pfarrer mit leiser Stimme. »Ich werde ihn auf der Stelle fortschicken, denn ich glaube nicht, dass der junge Herr solcher Dienste b e darf, weder heute noch in den nächsten Tagen.«
»Nein Anna, du bleibst hier und kümmerst dich um Mister Unwin. Die Sache mit Josiah Bongt übe r nehme ich.«
Ich widersprach nicht, sondern fühlte mich e r leichtert. Gerade als ich Christopher Unwins Gesicht in ein wenig Lavendelwasser badete und ihm zur Aufmunterung die Anzeichen für seine Besserung erzählte, drangen von unten erregte Stimmen herauf. Mein Vater verfluchte Michael Mompellion auf übelste Weise. Er wollte nicht hören, dass der junge Mann drinnen in keiner Weise des Grabes bedurfte,
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