Das Pestzeichen
Jeremias blieb stehen und keuchte. Was war los mit ihm? Obwohl er bedächtig vorangeschritten war, schnaufte er wie nach einem schnellen Lauf.
Er wartete, bis sein rasendes Herz sich beruhigt hatte. Dann zog er die magischen Schriften aus der Tasche. Hastig überflog er die Seiten, überlegte, blickte abschätzend umher, las einige Seiten nochmals und schaute sich weiter um. Dann nickte er, nahm die Rute in die eine und das aufgeschlagene Heftchen in die andere Hand. Während er die Fläche ein weiteres Mal abschritt, las er sich selbst laut vor:
»Ich beschwer uch vier haselrutten by den vier ewangelisten, by sant Lucas, by sant Marcus, by sant Johanns vnd by sant Matheus, das jr vns wiset uff den rechtten schatz, des wir hoffend sind. Jch beschwer uch by den hailgen dryen kungen … das sie vns also recht wisen uff den rechten verborgen schatz, als sie gewiset warund von dem stern, der jn vor gieng zue der wahren kinthait … Jhesu Christi.«
Anschließend ging er die gleiche Strecke rückwärts ab und wiederholte die Beschwörungsformel auf Hochdeutsch: »Ich beschwöre euch vier Haselruten bei den vier Evangelisten, bei Sankt Lukas, bei Sankt Markus, bei Sankt Johannes und bei Sankt Matthäus, dass ihr uns weiset den wahren Schatz, auf den wir hoffen. Ich beschwöre euch bei den Heiligen Drei Königen, dass sie uns so richtig zu dem verborgenen Schatz leiten, wie sie selbst geleitet wurden von dem Stern, der von ihnen ging hin zur wahren Geburt Jesu Christi als ein Kind.«
Jeremias musste immer wieder innehalten, da heftiger Husten ihn quälte. Sein Rachen brannte bei jedem Atemzug, und er fühlte einen unangenehmen Geschmack im Mund. Als er Blut schmeckte, wurde ihm übel, und er spuckte. Plötzliche Krämpfe peinigten seinen Leib, der von heftigem Beben geschüttelt wurde. Er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Da die Dämmerung hereinbrach, beschloss er, die Schatzsuche für diesen Tag zu beenden und zurück zu seinem Lagerplatz zu gehen.
Susanna trieb Dickerchen an, als ob der leibhaftige Teufel hinter ihnen her wäre. Der Viehhändler, mit dem der Bauer gesprochen hatte und der den Weg nach Trier kannte, hatte ihr davon abgeraten, die Handelsstraße zu nutzen, weil diese streckenweise aus unbefestigten Naturwegen bestand. Da Susanna sich nicht auskannte, wäre die Strecke nicht nur ein Umweg, sondern auch gefährlich gewesen. »Reite den Weg, den ich dir weise, dann bist du schneller und sicherer unterwegs.«
In Gedanken wiederholte Susanna die Orte, die auf ihrem Weg lagen, der sie auch durch ihre Heimat, das Köllertal, führen würde. Püttlingen, Saarwellingen und von dort nach Losheim. »In Losheim muss ich jemanden fragen, wie ich nach Trier komme«, murmelte sie. Während des harten Ritts beugte sie den Oberkörper dicht an den Hals des Pferdes. In Püttlingen dachte sie an ihre Familie und blickte in die Richtung, in der der Friedhof lag. »Verzeiht«, flüsterte sie, da sie keine Zeit hatte anzuhalten, um an den Gräbern ihrer ermordeten Angehörigen zu beten.
Als Susanna das Tal vor sich sah, in dem der Ort Losheim eingebettet lag, hatte sie keinen Blick für die Schönheit der Gegend mit den ausgedehnten Laub- und Nadelwäldern, die die Landschaft durchzogen. Sie sah einen Greis, der mit seinem Fuhrwerk in der Nähe eines Ackers stand, ritt auf ihn zu und zügelte das Pferd erst dicht vor ihm. Da sie keine Zeit verschwenden wollte, blieb sie im Sattel sitzen und blickte von oben auf den Mann hinab. »Ich grüße dich«, rief sie ihm hastig und undeutlich zu.
Der Alte blickte sie mürrisch an. »Ich bin der Claß Beyer! So viel Zeit muss sein«, erwiderte er und spitzte dabei unentwegt die Lippen.
»Ich grüße dich, Claß Beyer!«, wiederholte Susanna ihren Gruß, sodass der Alte zufrieden war. »Ich muss nach Trier. Kennst du den Weg?«
»Gewiss kenne ich den Weg in die Stadt! Schließlich bin ich in meiner Jugend mehrmals dort gewesen. Ich weiß noch genau, wie ich das erste Mal nach Trier kam …«, wollte er erzählen, als Susanna ihn unterbrach.
»Ich habe es sehr eilig«, versuchte sie ihm klarzumachen.
Daraufhin reckte er beleidigt das Kinn in die Höhe und brummte: »Dann eben nicht.«
»Bitte sag mir, wie ich nach Trier komme«, bettelte Susanna. Weil er schwieg, erfand sie eine Lüge: »Mein Liebster ist dort Soldat, und ich will ihn überraschen.«
Nun verzog sich der zahnlose Mund des Bauern zu einem stummen Lächeln. »Oh, an das Gefühl der Liebe kann ich mich
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