Das Phantom im Opernhaus
Eindruck verstärkte, dass sie ein gebrochener Mensch war. Gleichwohl erwies sich Irena als wandlungsfähig: Kaum hatte sie sich zu ihren Kollegen gesellt, straffte sich ihre Haltung. Sie warf ihr Haar in den Nacken und begann lächelnd zu schwatzen.
Seltsam, dachte Paul, dass sie nach dem Tod ihres Lebensgefährten nicht wenigstens ein paar Tage frei genommen hatte, um abseits des Tagesgeschäfts trauern zu können. Aber vielleicht brauchte sie die Ablenkung, um nicht in ein tiefes seelisches Loch zu fallen. Oder aber sie befürchtete, dass ihre Rolle bei längerer Fehlzeit anderweitig besetzt würde.
»Paula!« Irena winkte die Maskenbildnerin zu sich heran. Diese schnippte widerstrebend die gerade erst angezündete Zigarette beiseite, ergriff ihre Tasche und folgte dem Ruf der Sängerin. »Du hast doch sicher etwas für uns dabei?«, fragte Irena mit glänzenden Augen. »Damit das Warten nicht zu lang wird.«
Wortlos öffnete Paula Dorfner ihre Schminktasche und zauberte zu Pauls Verblüffung eine Piccoloflasche Sekt hervor. Dann reichte sie noch einen kleinen Plastikbecher nach.
»Du bist ein Schatz«, sagte Irena und drückte die Maskenbildnerin kurz an sich. Irena schraubte den Verschluss der kleinen Flasche auf, und Paul meinte zu erkennen, wie ihre Hände dabei zitterten. Sie goss den Becher randvoll und stürzte den Sekt in wenigen schnellen Zügen hinunter. »Möchte von euch auch jemand?«, fragte sie in die Runde, wartete die Antwort aber nicht ab. Blitzschnell hatte sie sich nachgeschenkt und trank den Rest aus. Diese Frau hat ein Problem, dachte Paul bei sich.
Als Ricky Haas endlich auftauchte, hatte sich Paul bereits mehr als eine Stunde im Proberaum aufgehalten. Gern hätte er den Grund für die lange Wartezeit erfahren, doch nach dem Gesichtsausdruck des Regisseurs zu urteilen gab es jetzt wichtigere Dinge. Denn Haas war aschfahl! Seine weißgrauen Haare sahen noch wilder und zerzauster aus als sonst, und seine Stimme versagte ihm fast den Dienst, als er mühsam hervorstieß: »Es ist … schrecklich … ganz fürchterlich …«
Die Schauspieltruppe hing an seinen Lippen, ebenso Paul. Haas kam auf wackeligen Beinen auf sie zu: »Ihr müsst jetzt ganz stark sein, Kinder«, sagte er.
Dies war die Ankündigung einer neuen schlimmen Nachricht, so viel stand für Paul fest.
9
Paul traf zeitgleich mit Haas und den Sängern am Schauplatz des Dramas ein: Wieder handelte es sich um einen Teil des umfangreichen Kulissenlagers. Und wieder war der Tote inmitten von Requisiten und Bühnenteilen einer längst eingestellten Produktion aufgefunden worden.
Jürgen Klinger lag auf dem Bauch, der unter seinem eigenen Gewicht seltsam gequetscht wirkte. Weiße Speckrollen quollen über den Hosenbund. Klingers Hände waren zu Fäusten geballt. Sein Kopf war zur Seite gedreht, die Augen weit aufgerissen. Sein Mund stand wie zu einem Schrei geöffnet. Am Hinterkopf klaffte eine große Wunde, aus der Blut und Hirnflüssigkeit ausgetreten waren und sich mit Splittern der Schädeldecke zu einer grau-weiß-roten Masse vereinten.
Pauls erster Impuls befahl ihm, sich voll Abscheu abzuwenden. Nur wegsehen und nichts mit diesem entsetzlichen Vorfall zu tun haben! Aber er war zu sehr Profi, um jetzt seinem natürlichen Impuls nachzugeben. Mit der gebotenen Achtsamkeit trat er näher an den Fundort der Leiche heran. Näher als alle anderen Anwesenden.
Die Polizei war noch nicht eingetroffen. Wenn die Beamten mit Katinka im Schlepptau erst einmal hier wären, bekäme er eine Fotoerlaubnis bestenfalls nach Abschluss der Spurensicherung und der Untersuchungen des Polizeiarztes. Bis dahin würde man den Leichnam pietätvoll zugedeckt oder schon in einen Behelfssarg gelegt haben. Verwertbare Hinweise auf den Tathergang würden Pauls Fotos zu diesem Zeitpunkt nicht mehr hergeben. Also fackelte er nicht lange, sondern nahm seine Kamera von der Schulter und knipste drauflos.
»Darf der das?« – »Ist das denn erlaubt?«, folgten prompt die Reaktionen der Umstehenden. Paul ließ sich davon nicht abhalten, sondern machte weitere Aufnahmen. Nachdem er mehrmals den ausgestreckten Leichnam fotografiert hatte, konzentrierte er sich auf Details und ließ auch das Bühnenbild nicht aus, in dem sich die Tragödie ereignet hatte.
»Genug!« Dieser Protest kam besonders heftig. Paul ließ seine Kamera sinken und erkannte Ricky Haas. Der Regisseur wirkte aufs Höchste erregt. Er warf Paul vernichtende Blicke zu, seine Hände waren
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