Das Phantom im Opernhaus
hat dir das so erzählt?«, hakte Paul nach, als Fink fertig war. Er dachte an die Sektreserven in der Tasche der Maskenbildnerin und daran, wie die Dorfner Irenas Alkoholismus damit willentlich Vorschub leistete. Falsche Schlange!, durchfuhr es ihn.
»Ja, sie hat das mitgehörte Gespräch sehr detailliert wiedergegeben«, bestätigte Fink. »Entsprechend groß ist ihre Sorge, dass Irena eine Dummheit begangen haben könnte. Erst der Ärger über ihren Lebensgefährten Baumann, dann der Druck durch Klinger – Paula Dorfner fürchtet, dass Irenas Nerven nicht mehr mitspielten und es zu einer Kurzschlusshandlung kam.«
»Mit anderen Worten«, Katinka setzte sich auf ihrem Stuhl gerade auf, »bezichtigt Ihr treues Gemeindemitglied die Sängerin Irena des Mordes?«
Fink neigte den Kopf: »Höre ich da einen leisen Anklang von Zweifel oder sogar Sarkasmus?«
»Nein«, stellte Katinka klar. »Aber Sie müssen wissen, dass es in diesem Ermittlungsverfahren von gegenseitigen Beschuldigungen, Unterstellungen und Falschaussagen nur so wimmelt. Trotzdem werde ich die neuen Angaben selbstverständlich überprüfen.«
Obwohl Paul gern noch auf ein zweites Bier bei Hannes Fink geblieben wäre, verzichtete er Katinka zuliebe darauf und verließ gemeinsam mit ihr das Pfarrhaus. Draußen, auf dem Sebalder Platz, war ein kühles Lüftchen aufgezogen. Allmählich kam der Herbst wohl doch näher. Katinka fröstelte und kuschelte sich an Paul.
»Es ist ziemlich deprimierend«, meinte sie. »Die Polizei hat an den Tatorten diverse Spuren sichergestellt, die aber leider wenig aussagen, denn dort im Theater gehen einfach zu viele Leute aus und ein. Wir haben Faser- und Gewebeproben von praktisch jedermann. Auch die Zeugenaussagen und Verhöre sind unbrauchbar, weil kaum einer der Beteiligten die Wahrheit spricht. Und am Ende müssen wir uns womöglich auf Beichten berufen, die vor Gericht keinen Bestand haben würden.« Sie schüttelte heftig ihren Kopf und brachte ihre langen blonden Haare damit gehörig in Unordnung. »Was uns fehlt, ist eine echte heiße Spur. Jemand, der uns endlich weiterhilft. Jemand, der diese Leute, mit denen wir es zu tun haben, wirklich kennt und nicht nur ihre aufgesetzten Rollen und Maskeraden.«
Dem konnte Paul nur voll und ganz zustimmen. Diesmal war es wahrlich vertrackt. Ohne die Hilfe eines verlässlichen Insiders würden sie womöglich ewig auf der Stelle treten. Aber wem konnte man vertrauen, auf wen konnte man bauen?
Paul, seine Verlobte am Arm, nahm diese Frage mit nach Hause und suchte noch immer nach einer Antwort, als sich Katinka nach einem ausgiebigen Kuss von ihm gelöst hatte und auf seinem Sofa eingedöst war. In Gedanken versunken ließ auch er sich – leicht beschwipst von Finks süffigem Bier – auf das Sofa fallen.
Jemand, dem man vertrauen konnte … – es ließ ihn nicht los! Er versuchte, sich die wichtigsten Personen des Falls vor Augen zu führen und ihre Rollen zu definieren. Er konzentrierte sich, wollte Bilder in seinem Kopf entstehen lassen, scheiterte aber bald am Gewirr der Beziehungen. Daraufhin beschloss er, zu einem altbewährten Hilfsmittel zu greifen. Er ließ sich vom Sofa gleiten, rutschte auf den Knien über das Parkett zum Bücherregal und zog einen abgenutzten Schuhkarton aus dem untersten Regal. Forsch drehte er den Karton um, woraufhin der Inhalt tosend auf den Boden prasselte: Playmobilfiguren in den unterschiedlichsten Outfits.
Katinka schlummerte unbeirrt friedlich weiter, während Paul das Spielzeug zunächst nach Männlein und Weiblein sortierte und anschließend begann, kleine Gruppen zusammenzustellen. Jede Figur ordnete er einer real existierenden Person zu, die auf die eine oder andere Weise mit den Morden in Verbindung stand. Da waren zunächst die beiden Toten selbst, die er waagerecht auf den Holzboden legte. Dann stellte er die als verdächtig eingestuften Männchen auf die eine Seite: darunter Ricky Haas, den seine offene Feindschaft zu Klinger und sein falsches Alibi belasteten. Dann Eduard Ascherl, dessen Leidenschaft für die Oper dem Vernehmen nach fanatische Züge angenommen hatte, der noch dazu finanziell in der Klemme steckte und zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts gesichtet worden war. Und natürlich Irena, die von ihrem Lebensgefährten Baumann betrogen und von Klinger gedemütigt worden war. Schließlich auch Chefbeleuchter Glück, den heimlich Liebenden, der aus Eifersucht seinen Nebenbuhler Baumann und aus noch nicht
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