Das Phantom im Opernhaus
Kriminalfall gibt es einen Punkt, an dem man mit normaler Polizeiarbeit nicht weiterkommt. Man ist dann auf den guten Willen von Leuten wie Ihnen angewiesen, Frau Glossner. Wir hoffen, dass Sie uns etwas mehr über die besonderen Charaktereigenschaften der beteiligten Personen erzählen können. Vielleicht liefert uns das einen Anhaltspunkt.«
»Aber Herr Flemming.« Auf Evelyn Glossners Stirn bildeten sich zwei strenge, gerade Linien. »Etwas Ähnliches haben Sie mich erst neulich in der Kantine gefragt. Da habe ich Ihnen bereits erklärt, dass ich nichts aus den Krankenblättern meiner Patienten preisgebe. Das gehört zum Berufsethos, und es ist mir auch persönlich wichtig, das Vertrauensverhältnis nicht zu zerstören.«
Paul überließ nun Katinka das Feld, die sehr einfühlsam und dabei sachlich auf die Psychologin einredete, um sie von der Bedeutung ihres Unterfangens zu überzeugen. Sie legte noch einmal die Schwierigkeiten dar, die die Kriminalpolizei bei ihren Ermittlungen in den beiden Mordfällen hatte, sprach den komplexen Umgang mit den unter Verdacht geratenen Personen an. Schließlich wies sie noch darauf hin, dass Gefahr in Verzug sei, wenn der Täter nicht bald gefasst würde. Denn sie könne nicht ausschließen, dass es sonst einen dritten Mord gäbe: »Einiges spricht dafür, dass wir es mit einer Serie zu tun haben.«
Evelyn Glossner hörte aufmerksam zu und wurde dabei auf ihrem Stuhl immer steifer. »Was Sie von mir verlangen, ist überaus heikel. Da steht mehr auf dem Spiel als nur mein guter Ruf.«
Katinka nickte, machte nun aber unmissverständlich klar: »Liebe Frau Glossner, im Prinzip gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir plaudern hier zwanglos miteinander und Sie beteiligen sich aus freien Stücken an meinen vertraulichen Vorermittlungen. Oder aber wir fahren die offizielle Schiene und ich komme mit einem richterlichen Beschluss zurück.« Milder fuhr sie fort: »Wissen Sie, eigentlich ist es ja gar nicht meine Aufgabe, selbst zu ermitteln, sondern Sache der Polizei. Aber ich möchte dies alles verstehen und interessiere mich für die Hintergründe. Ich halte Sie für eine ganz wichtige Stütze in dieser Angelegenheit!«
Als Katinka schwieg und sie fragend ansah, atmete die Psychologin tief durch und erklärte sichtlich schweren Herzens: »Also gut. Ich werde Ihnen Ihre Fragen beantworten. Aber nur unter der Voraussetzung, dass dies kein offizielles Verhör ist und Sie meine Angaben später nicht vor Gericht verwenden.«
»Einverstanden«, sicherte ihr Katinka zu. »Betrachten wir unsere Unterhaltung als rein konspirativ. Offiziell findet sie nicht statt.« Damit konnte die Fragerunde beginnen. Zunächst erkundigte sich Katinka nach den Charakteren der beiden Opfer, wobei allerdings kaum neue Erkenntnisse zutage traten. Außer Evelyn Glossners Andeutung, dass Norbert Baumann laut Angaben seiner Partnerin Irena wohl nicht nur ein notorischer Fremdgänger gewesen war, sondern auch sadistische Neigungen gezeigt hatte – eine schlimme Eigenschaft, die Irena des Öfteren zu spüren bekam. Klinger, bestätigte die Psychologin, sei ein großspuriger Schwadroneur und rücksichtsloser Karrieremensch gewesen. Ihr eigenes Verhältnis zu ihm beschrieb sie als angespannt: »Meine Aktivitäten an der Oper waren ihm suspekt, oder sollte ich sagen: ein Dorn im Auge? Er hat mehr als nur einmal versucht, mich zu vergraulen. Aber wenn es um das Wohl meiner Patienten geht, kann ich eine richtige Zecke sein.«
Über Chefbeleuchter Hans-Peter Glück wusste sie fast gar nichts Ergänzendes zu sagen: »Er agiert dort oben in seinem hängenden Lampengarten wie ein Affenmensch, der sich jedem Zugriff und jedem Versuch einer Analyse entzieht«, fasste Evelyn Glossner treffend zusammen. Sehr ausgiebig dagegen wusste sie über Ricky Haas zu berichten, der im Grunde genommen ein netter Kerl und ein Vollblutkünstler sei, aber nicht mit dem karrierefixierten Denken und Agieren seines Kontrahenten Klinger zurechtgekommen war. Außerdem habe er das ernsthafte Problem, dass er nie aus der Midlifecrisis herausgekommen sei und seine verlorene Jugend durch Affären mit jungen Damen zu kompensieren versuche.
Dann kam sie auf diejenige zu sprechen, die für Katinkas und Pauls Recherchen momentan die Wichtigste war: Irena. Die Psychologin tat sich schwer, diese sensible und verletzliche Patientin auf eine faire und nicht bewertende Art darzustellen. »Am liebsten würde ich über Irena gar nichts sagen«, begann
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