Das Phantom im Opernhaus
noch bekümmerte ihn aber, wie sich Katinka nach dem Gespräch mit der Psychologin verhalten hatte. Denn kaum aus der Praxis, war ihre Zusicherung der unbedingten Vertraulichkeit vergessen. Sie wollte schleunigst alle Hebel in Bewegung setzen, damit die Kripo möglichst schnell den Verdacht gegen Irena erhärten konnte. Wahrscheinlich formulierte sie in Gedanken schon die Begründung eines Haftbefehls.
Das ging – trotz der schwerwiegenden Aussagen von Evelyn Glossner – für Pauls Geschmack wieder mal alles zu schnell und schien ihm voreilig. Was war denn mit den anderen Verdächtigen, fragte er sich. Spielten Glück, Haas und auch der feine Herr Ascherl plötzlich gar keine Rolle mehr? Versteifte sich Katinka auf Irena, weil diese das leichteste Opfer darstellte und sie auf einen baldigen Abschluss der Ermittlungen hoffen konnte? Und da hieß es immer, Paul sei unbesonnen. Wann würde es seine Zukünftige wohl endlich lernen, als Verfechterin von Recht und Ordnung ihr Temperament ein wenig zu zügeln?
Ablenkung suchend stöberte Paul in seinem PC. Nachdem er seine Mails durchgesehen hatte, rief er abermals die Tatortfotos auf. Schnell fand er das Bild, auf dem man den schmalen Schal sehen konnte. Wie Katinka ihm inzwischen bestätigt hatte, befand sich nichts dergleichen unter den sichergestellten Beweisstücken. Als sie erfahren hatte, dass sich Pauls Nachfrage auf seine unautorisierten Tatortfotos bezog, war ihr Mund schmal geworden und ihre Augen hatten kühl geblitzt. »Wahrscheinlich gehörte der Schal einem der anderen Schaulustigen, die da fahrlässig herumspaziert sind und alle brauchbaren Spuren vernichtet haben. Er wird ihn eben wieder aufgehoben haben.« Paul hatte das Thema zunächst nicht weiter verfolgt.
Jetzt aber fragte er sich wieder, ob es sich nicht doch um ein wichtiges Indiz handeln könnte, und machte sich daran, den Bildausschnitt mit dem Schal zu vergrößern. Nachdem er den Detailausschnitt in ein eigenes Bild separiert hatte, benutzte er verschiedene Werkzeuge seines Bildbearbeitungsprogramms. Er erhöhte die Detailschärfe und den Kontrast, besserte Gradation und Belichtung auf und verschob zum Schluss noch die Farbwerte. Das kostete ihn fast eine halbe Stunde Tüftelarbeit.
Doch am Ende stand ein Ergebnis, das sich sehen lassen konnte: Der Bildschirm war von einem lilafarbenen Seidenhalstuch ausgefüllt. Es handelte sich zweifelsfrei um das modische Accessoire einer Dame. Paul ließ das Bild auf sich wirken und versuchte sich eine Frau aus seinem neuen Bekanntenkreis an der Oper vorzustellen, zu der dieses Tuch passte oder an deren Hals er es womöglich schon einmal gesehen hatte. Da kam ihm spontan nur wieder eine in den Sinn: Irena.
»Auch das noch«, murmelte er. Wenn er das Ergebnis seines Fotopuzzles an Katinka weitergäbe, wäre das noch mehr Wasser auf ihre Mühlen.
Trotzdem konnte er sich den Tatsachen nicht verschließen. Es sah ganz so aus, als würden die entscheidenden Spuren bei der Sopranistin zusammenlaufen. Paul fiel es schwer, sich mit diesem Gedanken anzufreunden.
21
Nein! Er wollte sich nicht mit diesem Gedanken anfreunden! Als Paul seine morgendlichen Gymnastikübungen absolvierte und sich anschließend mit seinen Hanteln abrackerte, stieg in ihm der Wunsch auf, Irena eine zweite Chance zu geben. Katinka tendierte – das wusste gerade Paul nur allzu gut – in gewissen drängenden Situationen zur Willkür. Er fühlte sich verpflichtet, dieses Manko seiner künftigen Frau auszugleichen. Daher beschloss er, Irena selbst auf den Zahn zu fühlen, anstatt tatenlos zuzusehen, wie sie dem Justizapparat ausgeliefert wurde. Von einem weiteren persönlichen Gespräch mit ihr versprach er sich zwar nicht besonders viel, denn er hatte sie mit seiner unverblümten Fragerei schon einmal verschreckt, aber den Versuch war es wert. Er musste allen Charme und alle Überzeugungskraft zusammennehmen, ihr zuversichtlich gegenübertreten und ihr eine weitere Unterredung abverlangen.
Mit diesem Vorsatz ging er duschen und machte sich gleich darauf auf den Weg zur Oper, in der zu dieser frühen Stunde die Reinigungskräfte dominierten und die Anwesenheit von Künstlern die Ausnahme war. Doch Paul hatte mitbekommen, dass Irena diese stillen Stunden für sich entdeckt hatte, um abseits des Trubels und der neugierigen Fragen ihrer Kollegen in den Kulissen zu proben und ihre Rolle einzustudieren.
Tatsächlich lag er richtig mit seiner Annahme: Irena saß auf einem Podest vor
Weitere Kostenlose Bücher