Das Phantom im Opernhaus
Umstand?«, hakte Paul nach.
»Genau. Wir dürfen uns keinen Gesichtsverlust durch vorschnelles Handeln erlauben. Mit Irena würde das Zugpferd des Abends fehlen.«
»Ja«, sagte Paul nachdenklich. »Irena soll in der Rolle der Carmen brillieren. Das fällt ihr sicher nicht leicht in ihrer momentanen Verfassung.«
»Sie wird in diesem Part den Operntod sterben – drück ihr die Daumen, dass dies nicht gleichzeitig das Ende ihres Lebens in Freiheit bedeutet.«
25
Es waren nur noch zwei Tage bis zum Opernball, und Paul wusste, dass die Polizei alle Beteiligten mit Argusaugen beobachten würde, auch wenn sie mangels Beweisen noch nicht zuschlagen konnte oder durfte.
Heute stand für ihn eine isolierte Szene aus Carmen auf dem Programm: Auf dem Markplatz von Sevilla bahnt sich ein junges Mädchen einen Weg durch die Volksmenge. Es ist Micaela, die Verlobte von Don José. Sie nähert sich den Wachposten, um mit ihrem Geliebten zu sprechen. Unteroffizier Morales lädt sie ein zu warten, doch sie lehnt dankend ab: Sie möchte zur Wachablösung wiederkehren, die sich bereits ankündigt. Mit der neuen Kompanie erscheint Don José, der seinem Hauptmann Zuniga erklärt, kein Interesse an den heiteren Arbeiterinnen zu haben, die die jungen Männer umwerben. Unter ihnen ist die schöne Zigeunerin Carmen, die sich verführerisch Don José nähert. Von der Gleichgültigkeit des Dragoners angestachelt, umtanzt sie ihn und wirft ihm eine rote Blume zu.
Ricky Haas studierte den letzten Teil dieser Passage mit Irena ein. Doch die Sopranistin kam Paul hoch nervös vor; Paula Dorfner hatte ihr anscheinend ihre Ration Sekt vorenthalten. Auch Haas wirkte auf Paul angespannt und aggressiv. Paul musste sich gedulden, bis die Szene so weit vorbereitet war, dass er fotografieren konnte.
Während er wartete, rief er sich die lässige Kurzfassung der Oper in Erinnerung, wie sie Hannah formuliert hatte: »Leidenschaft und Eifersucht, unterlegt mit einem unverwechselbaren Rhythmus. Das Highlight, die Habanera, ist eine Jubelarie fürs Publikum. Bei der Uraufführung 1874 fand man Carmen zu versaut.«
»Reiß dich endlich zusammen!« Haas’ Brüllen holte Paul abrupt aus seinen Gedanken. Der Regisseur tobte: »Ich kann so nicht arbeiten! Ich brauche deine volle Konzentration! Deine ganze Hingabe an diese Rolle!« Irena wurde bereits von einem Heulkrampf geschüttelt. Das machte Haas nur noch wütender. »Du nimmst die Titelrolle wie eine drittklassige Primadonna! Was dir fehlt, ist das Feuer! Mit Mezzavoce kannst du über dein gaumiges Vibrato nicht hinwegtäuschen.« Diese herbe Kritik brachte Irena nur noch mehr zum Weinen. Haas scheuchte die anderen Darsteller daraufhin kurzerhand von der Bühne: »Alle raus! Haut ab! Macht Pause! Ich muss mit Irena allein arbeiten! Die Diva verpatzt uns sonst den Ball.«
Als Paul keine Anstalten machte, sich dem maulend abziehenden Ensemble anzuschließen, erhielt er von Haas eine deftige Extraeinladung: »Schwingen Sie Ihren Hintern hier raus! Aber plötzlich! Oder denken Sie, Sie wären etwas Besseres?«
Paul tat wie ihm geheißen. Er folgte dem mehr oder weniger klaglos abziehenden Stab und sprach einen jungen Mann, den er als völlig unterdrückten Regieassistenten ausgemacht hatte, auf Haas’ seltsames Verhalten an: »Platzt dem eigentlich öfter so die Hutschnur?«
»Das kann man wohl sagen«, sagte der blasse junge Mann im leidenden Tonfall eines Geknechteten.
»Und das lassen sich alle gefallen?«
»Man gewöhnt sich daran. Haas ist halt ein Exzentriker.« Er sagte das, als wäre dieser Charakterzug das natürliche Merkmal eines jeden guten Regisseurs.
»Das mag ja sein, aber hat er als Regisseur denn das Recht, Irenas Gesangsstil zu kritisieren? Das ist doch Sache des Dirigenten, oder?«
Der blasse Regieassistent sah Paul einen Moment lang an, als sei er der Mann vom Mond. Dann besann er sich wohl darauf, dass Paul ein Neuling im Gewerbe war, atmete tief durch und erklärte: »Das läuft so: Die Regie des Schauspiels auf der Bühne und die musikalische Interpretation sind üblicherweise vollkommen getrennt. Die Sänger haben zum einen Klavierproben mit dem Dirigenten – wenn der sich die Zeit dafür nimmt – und zum anderen reine Schauspielproben auf der Bühne, wie heute. Dabei wird dann auch oft ein Korrepetitor eingesetzt, der den Orchesterpart mit dem Klavier spielt, aber hier kommt es eigentlich nicht auf die Musik an, sondern auf das Schauspiel. Die Sänger markieren dabei
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