Das Phantom im Opernhaus
auch oft nur, das heißt, sie säuseln nur vor sich hin, anstatt richtig zu singen, weil sie ja häufig am Vormittag Proben für Oper B haben und am Abend Oper A singen müssen. Sie schonen ihre Stimme, statt sich beim Üben zu verausgaben. Erst zum Schluss, also bei der Hauptprobe, wird alles zusammengesetzt.«
»Es ist also völlig normal, wenn Irena gesanglich noch nicht ihr Bestes gibt?«, fragte Paul.
Sein Gesprächspartner nickte. »Aber Haas verlangt entgegen den Gepflogenheiten das volle Programm. Er weiß, dass er spätestens nach der Hauptprobe aus dem Rennen ist. Zu diesem Zeitpunkt bringt normalerweise nur noch der Dirigent Änderungen ein. Da ist es schon viel zu spät für Regieanweisungen.«
»Mit anderen Worten: Haas will sich von niemandem, auch nicht vom Dirigenten, das Zepter aus der Hand nehmen lassen«, folgerte Paul.
»Tja, wie soll ich sagen? Zwischen Schauspiel und Musik kann es durchaus zum Konflikt kommen, wenn zum Beispiel der Regisseur will, dass die Sänger während einer Arie schnell hin- und herlaufen. Dann wird der Ton instabil, der Atem kürzer und der künstlerische Ausdruck leidet. Allerdings ist das heute fast der Standard. Die alte Methode – der Sänger stellt sich hin und singt seine Arie – ist als Rampensingen verpönt. Haas’ Ansprüche haben also ihre Berechtigung.«
»Aber er könnte sich mit dem Dirigenten doch ganz einfach absprechen. Oder?«
»Wenn man einen namhaften Dirigenten hat, dann wird der sich vorher mit dem Regisseur zusammensetzen und das Dirigat eventuell ablehnen, wenn ihm das Regiekonzept nicht passt. Ein solches Risiko würde Haas niemals eingehen. Deshalb reduziert er die Überschneidungen mit dem Dirigenten auf ein Minimum und zieht sein eigenes Ding durch.«
»Und die arme Irena muss unter dem Kompetenzgerangel leiden«, meinte Paul.
Den Regieassistenten ließ dieser Gedanke kalt. »Ein Profi muss so etwas wegstecken können. So läuft es nun einmal«, sagte er und wandte sich ab.
Paul sah ihm nach und fragte sich, ob es wirklich richtig war, Haas so viel durchgehen zu lassen. Auf die Dauer würde Paul jedenfalls nicht bei jedem Wutausbruch des Regisseurs den Kopf einziehen und ihn gewähren lassen. Wenn er seinen Job als Opernfotograf längerfristig ausübte, würde es sicher eines nicht allzu fernen Tages zur Konfrontation kommen. Aber noch war dieser Moment nicht da. Noch füllte Paul die Rolle des Beobachters aus, der sich nicht durch vorschnelles Handeln selbst ins Abseits manövrieren wollte.
Während die anderen Verbannten nach und nach den Weg ins Freie suchten, um zu rauchen, nutzte Paul die Zwangspause zum Telefonieren.
»Hallo, Jasmin? Störe ich?«
»Paul?« Die Kommissarin klang freudig überrascht. »Was gibt’s denn? Willst du dich mal wieder mit mir in der Sauna verabreden?«
»Lieber nicht. Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du was Neues für mich hast. Deine SMS von neulich waren wenig aussagekräftig.«
»Aber Paul, du weißt doch: Selbst wenn ich wollte, dürfte ich dir nichts Näheres darüber sagen. Polizeiarbeit funktioniert deshalb so gut, weil wir uns nicht von jedem x-Beliebigen in die Karten schauen lassen.«
»Ich bin kein x-Beliebiger. Außerdem: Du weißt, dass du mir vertrauen kannst.« Automatisch setzte er bei diesem Satz den Dackelblick auf, den er sich von George Clooney abgeschaut hatte, was übers Telefon jedoch ohne Wirkung blieb.
»Na ja, Paul, da habe ich bereits andere Erfahrungen gemacht.«
»Ich verspreche es dir!«, versicherte er.
»Also schön. Aber ich komme in Teufels Küche, wenn du dich gegenüber deinem Freund Blohfeld verplapperst. Wehe dir, wenn ich meine Interna in seinem Schmierenblatt lese!«
»Er ist nicht mein Freund«, stellte Paul klar. »Und meine Lippen sind versiegelt. Nun? Wie sieht es aus? Eure Spurensicherung hat ja wohl leider nichts Brauchbares gefunden. Außer Spesen nichts gewesen, was?«
»Das ist nicht ganz richtig«, widersprach Jasmin. »Man muss nur Geduld haben und lange genug suchen. Denn es gibt niemals einen sauberen Kontakt zwischen zwei Objekten. Wenn sich zwei Körper oder Gegenstände berühren, dann kontaminieren sie sich gegenseitig mit winzigen Substanzfragmenten. Wer auch immer der Täter ist, er hat Spuren hinterlassen. Wir müssen sie nur erkennen, von den übrigen Stoffen isolieren und einer bestimmten Person zuordnen.« Paul dachte sofort wieder an Irenas Halstuch und daran, dass einzelne Fasern des Tuches bestimmt unter den
Weitere Kostenlose Bücher