Das Phantom im Opernhaus
Wesen. Doch bei näherer Betrachtung wirkte sie gar nicht mehr so garstig und tat – auf ihre Art – auch Gutes: Mal abgesehen von ihren Alkoholrationen hatte sie doch viel für Irena getan und sich für sie weit aus dem Fenster gelehnt, als sie das Halstuch vom Tatort verschwinden ließ. Und ihre Beichte bei Pfarrer Fink mochte zwar in erster Linie der Erleichterung ihres Gewissens gedient haben, aber vielleicht drückte sich darin auch ein innerer Zwiespalt in ihren Gefühlen gegenüber Irena aus: ein Schwanken zwischen Loyalität und Abkehr. Paul dachte weiter über die dubiose Rolle der Paula Dorfner nach, und unweigerlich wurden die mahnenden Worte von Hans im Glück wachgerufen: Dieser hatte die Maskenbildnerin beobachtet und hielt sie für die Mörderin. Auch dieser Vorwurf wog schwer und war nicht einfach von der Hand zu weisen.
Paul wurde mulmig, und er zog in Erwägung, Katinka auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen. Doch bei näherer Betrachtung schwächte sich der Verdacht ab: Was sollte Paula Dorfner denn für eine Motivation gehabt haben, die beiden Männer ins Jenseits zu befördern? Außerdem drängte sich ihm die Frage auf, weshalb der Chefbeleuchter seinen Verdacht nicht der Polizei mitgeteilt hatte, wenn er sich dessen so sicher war. Dafür konnte es doch nur einen Grund geben: dass sich Hans eben nicht sicher war. Er hatte die Frau in der Theaterkulisse vielleicht gesehen, aber nicht eindeutig identifizieren können.
Paul wollte die Einordnung von Paula Dorfners Rolle auch nach längerem Grübeln nicht gelingen, sodass er die Figur letztlich doch neben der von Britta platzierte, nach dem Motto: Im Zweifel für den Angeklagten.
Beim Betrachten des für Britta reservierten Playmobilmädchens kam ihm Hannah in den Sinn, die sich mit ihr inzwischen angefreundet hatte. Und bei diesem Gedanken erfasste ihn das schlechte Gewissen: Nach ihrer Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hatte er Hannah noch immer nicht gesprochen!
Sofort griff er zum Hörer und wählte ihre Nummer. Diesmal klappte es:
»Ja, ich«, meldete sie sich kurz und bündig.
Paul leitete seinen verspäteten Rückruf mit ein paar austauschbaren Entschuldigungen ein und fragte: »Was gab es denn neulich Dringendes?«
»Ach …« Hannah klang so, als hätte sie ihren Anruf schon wieder vergessen. »Es war wohl etwas voreilig und gar nicht so wichtig.«
Paul schmunzelte. »Das beruhigt mich und mildert mein schlechtes Gewissen.« Gleichwohl trieb ihn die Neugierde. »Erzählst du es mir trotzdem?«
Hannah druckste herum, bevor sie damit rausrückte: »Es ist nur eine Beobachtung gewesen, von der ich zuerst dachte, dass sie irgendeine Bedeutung haben könnte.«
»Spann mich nicht auf die Folter«, trieb Paul sie an.
»Also gut. Es geht um Britta. Ich habe sie neulich noch mal in ihrer Garderobe an der Oper besuchen dürfen. Als sie kurz mal für kleine Mädchen musste, setzte ich mich vor ihren Spiegel. Das ist so einer mit Glühbirnen rundherum, und jede Menge Schminke steht da, mit Marken, von denen ich teilweise noch nie etwas gehört habe. Wenn man dort sitzt, fühlt man sich selbst wie ein Star.«
»Ja, schön und gut. Aber worauf willst du hinaus?«, fragte Paul mit leiser Ungeduld.
»Ich habe also ein wenig gestöbert und geschaut, und da fiel mir ein Röhrchen mit Tabletten auf. Eines mit ’nem Aufkleber von einer Apotheke. Ein Rezept lag gleich daneben.«
»Tabletten? Was denn für Tabletten?«
»Das habe ich mich auch gefragt. Ich dachte erst, das wären Vitaminpillen oder vielleicht etwas gegen Kopfschmerzen oder so. Aber der Name des Medikaments klang so kompliziert, deshalb musste ich mal im Beipackzettel schmökern.«
»Mach’s nicht so spannend: Um was handelte es sich?«
»Um Antidepressiva. Streng verschreibungspflichtig.«
»Oh.« Paul zeigte sich mehr als überrascht. Die junge, aufgeschlossene Britta hatte auf ihn bisher einen alles andere als depressiven Eindruck gemacht. »Du hast gesagt, dass auch ein Rezept daneben lag. Von welchem Arzt ist es denn ausgestellt worden?«
»Nun«, sagte Hannah mit belegter Stimme, »das Rezept stammt von Frau Glossner.«
Das erstaunte Paul abermals. »Das bedeutet, dass auch Britta zu ihren Patientinnen gehört. Was können wir daraus für Rückschlüsse ziehen?«
»Eigentlich gar keine gescheiten«, sagte Hannah und klang nun wieder deutlich abgeklärter. »Ich habe mir darüber lange den Kopf zerbrochen und wollte es sogar Mama sagen. Aber im Grunde hängen
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