Das Phantom von Manhattan - Roman
und von denen Du damals wie heute nichts ahnen konntest, kennen nur Christine de Chagny, ihr Gatte Raoul und ich. Deshalb möchte ich Dich bitten, mit diesen Informationen behutsam umzugehen …
Drei Jahre nachdem ich in Neuilly einen in einem Käfig angeketteten Sechzehnjährigen befreit hatte, begegnete ich dem zweiten der jungen Männer, die ich dann später als »meine Jungs« bezeichnet habe. Das geschah durch einen Zufall - einen schrecklich tragischen Zufall.
Er ereignete sich spät in einer Winternacht des Jahres 1885. Die Oper war zu Ende, meine Mädchen waren heimgegangen, und das große Haus hatte seine Türen geschlossen. Ich befand mich auf nur schwach beleuchteten Straßen allein auf dem Nachhauseweg und nahm eine Abkürzung: eine schmale, finstere, gepflasterte Gasse. Ohne daß ich es wußte, waren dort auch noch andere Menschen unterwegs. Vor mir hastete ein Dienstmädchen, das sehr spät freibekommen hatte, ängstlich durchs Dunkel auf den vor uns liegenden, heller erleuchteten Boulevard zu. In einem Hauseingang verabschiedete sich ein junger Mann, der, wie ich erst später erfuhr, sechzehn war, von Freunden, bei denen er den Abend verbracht hatte.
Aus dem Dunkel tauchte ein übler Kerl auf, einer dieser Straßenräuber, die auf der Suche nach Fußgängern, denen sie die Börse rauben können, finstere Gassen durchstreiften. Warum er sich gerade
das arme Dienstmädchen aussuchte, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Die junge Frau konnte nicht mehr als fünf Sou in der Tasche haben. Ich sah, wie der Räuber sich auf sie stürzte, ihr einen Arm um den Hals legte, um sie am Schreien zu hindern, und nach ihrer Börse tastete. Ich rief laut: »Hände weg von dem Mädchen, du Scheusal! Au secours! «
Ich hörte jemand an mir vorbeihasten, erhaschte einen Blick auf eine Uniform und beobachtete, wie ein junger Mann sich auf den Räuber stürzte und ihn mit sich zu Boden riß. Die junge Frau suchte kreischend das Weite. Ich habe sie nie wieder gesehen. Der Räuber riß sich von dem jungen Offizier los, rappelte sich auf und ergriff die Flucht. Der Offizier sprang ebenfalls auf und verfolgte ihn. Dann sah ich, wie der Räuber sich umdrehte, etwas aus der Tasche zog und damit auf seinen Verfolger zielte. Im nächsten Augenblick hörte ich einen Knall und sah einen Blitz, als er schoß. Dann rannte er durch einen Torbogen davon und verschwand in dem Gewirr aus Hinterhöfen.
Ich eilte auf den Zusammengebrochenen zu und bemerkte, daß er kaum mehr als ein Junge war: ein mutiges, tapferes Kind in der Uniform eines Kadetten der École Militaire. Sein hübsches Gesicht war kreidebleich, und er blutete stark aus einer Schußwunde im Unterleib. Ich riß meinen Unterrock in Streifen, um damit die Blutung zu stillen, und schrie, bis ein Hausbesitzer über uns sein Fenster öffnete und fragte, was passiert sei. Ich flehte ihn
an, zum Boulevard zu laufen und eine Droschke zu holen, was er, noch im Nachthemd, tat.
Zum Hôtel-Dieu war es viel zu weit, das Hôspital St-Lazare lag näher, deshalb fuhren wir dorthin. Ein junger Arzt hatte Nachtdienst, und als er die Verletzung sah und erfuhr, wer der Kadett war - nämlich der Sproß einer adligen Familie aus der Normandie -, ließ er sofort von einem Pfleger den in der Nähe wohnenden Oberarzt der chirurgischen Abteilung holen. Da ich vorerst nichts weiter für den Jungen tun konnte, ging ich nach Hause.
Aber ich betete darum, daß er durchkommen möge, und ging am nächsten Morgen, einem Sonntag, an dem es für mich in der Oper keine Arbeit gab, wieder ins Krankenhaus. Die Behörden hatten bereits seine Angehörigen in der Normandie verständigt, und der gerade anwesende Chirurg schien mich für die Mutter des Kadetten zu halten, als ich nach ihm fragte. Er bat mich mit sehr ernstem Gesicht in sein Sprechzimmer. Dort brachte er mir die schlechte Nachricht so schonend wie möglich bei.
Der Patient werde durchkommen, sagte er, aber die durch die Kugel hervorgerufenen Schäden seien schwerwiegend. Große Blutgefäße im Unterleib und in der Leistengegend seien irreparabel zerstört. Er habe keine andere Wahl gehabt, als sie durch Nähte zu verschließen. Ich verstand nicht gleich. Aber dann begriff ich, was er meinte, und fragte ihn klipp und klar danach. Er nickte ernst. »Ich bin untröstlich, Madame«, sagte er, »solch ein junges Leben, solch ein gutaussehender Junge, und nun
leider nur ein halber Mann. Ich fürchte, er wird niemals eigene Kinder haben
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