Das Philadelphia-Komplott
Kopf durch den schmalen Spalt. Syd hörte einen kleinen Jubelschrei und das Geräusch eines Stuhls, der über den Boden geschoben wurde. Und im nächsten Moment kam Prudence auch schon mit wehenden Haaren aus der Klasse gestürmt. Sie war das Ebenbild ihrer Mutter, sogar die beiden Grübchen in den Wangen waren gleich.
“Tante Syd!” Juchzend sprang sie in Syds Arme. “Du bist gekommen! Du bist wirklich gekommen!”
Syd hob sie hoch und wirbelte sie im Kreis herum. “Natürlich bin ich gekommen. Wie geht es dir, mein kleiner Kürbis? Los, gib deiner Tante Syd einen dicken Kuss.”
Das ließ Prudence sich nicht zweimal sagen und drückte ihr einen feuchten Schmatzer auf die Wange. Mit schief gelegtem Kopf fragte sie: “Hast du mir eine Überraschung mitgebracht?”
Syd war froh, dass sie sich daran erinnert hatte, wie sehr Prudence Überraschungen liebte. Sie setzte sie ab. “Was meinst du wohl?”, fragte sie, und zog ein eingepacktes Geschenk aus einer der beiden Einkaufstaschen, die sie mitgebracht hatte.
Prudence riss das rote Geschenkpapier ungeduldig auf. “Was ist es?”
“Das sag ich nicht.”
Das Papier fiel zu Boden, und als Prudence die Puppe mit den hellbraunen Zöpfen und der rahmenlosen Brille in den Armen hielt, fingen ihre Augen an zu leuchten. Sie blickte ehrfürchtig zwischen dem Geschenk und Syd hin und her. “Eine American Girl Puppe!”, flüsterte sie. “Oh Tante Syd. Dankeschön! Und dann auch noch Molly! Die wollte ich schon immer haben!”
Das hatte Syd natürlich gewusst. Seitdem der Hype um die American Girl-Puppen begonnen hatte, bettelte Prudence darum, auch eine zu bekommen. Molly war diejenige der acht Puppen, die es ihr von Anfang an angetan hatte. Vielleicht, weil ihre beste Freundin auch Molly hieß.
“Schön, dass sie dir gefällt.” Syd reichte die zweite Einkaufstasche an Schwester Madeline. “Ich wollte nicht, dass sich die anderen Kinder zurückgesetzt fühlen, deshalb habe ich ihnen auch etwas mitgebracht. Dot hat mir erzählt, dass sechs Mädchen und drei Jungs im Alter von drei bis elf hier wohnen?”
Die Nonne strahlte, als sie in die Tasche blickte. “Oh Sydney, das ist so nett von Ihnen. Ich weiß, dass die Kleinen begeistert sein werden. Ich werde sie jetzt gleich alle ins Spielzimmer bringen, dann habt ihr zwei ein bisschen Zeit für euch.” Sie drückte Syds Arm. “Und danach kommen Sie bei uns vorbei und lassen sich Milch und Kekse schmecken. Die Kinder werden Ihnen persönlich danken wollen.”
“Das mache ich. Danke, Schwester.”
Gemeinsam liefen Syd und Prudence durch den Garten. Nach einer Weile löste Prudence den Blick von ihrer neuen Puppe und schaute Syd an. “Tante Syd, wo ist meine Mama?”
Syds Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie setzte sich auf eine nahe gelegene Bank und zog Prudence auf ihren Schoß. “Sie musste eine sehr wichtige Reise machen, aber sie wird bald wieder zurück sein.”
“Aber ich vermisse sie.”
“Ich weiß, mein kleiner Kürbis. Hab noch ein bisschen Geduld, okay? Schaffst du das deiner Tante zuliebe?”
Prudence zog eine kleine Schnute. “Na gut”, sagte sie zögernd.
“Dir gefällt es hier doch, oder?”
Die Kleine nickte, dass die blonden Haare nur so flogen. “Die Schwestern sind sehr nett. Wir spielen viel, aber wir müssen auch bei der Hausarbeit helfen. Heute Morgen habe ich Pfannkuchen gebacken.”
“Und, wie war das?”
Prudence kicherte und drückte ihre Puppe an sich. “Ich hab versucht, einen in der Luft zu wenden, so wie Schwester Mary-Catherine. Hat aber nicht geklappt. Er ist auf den Boden gefallen, und Charlie hat ihn gefressen.”
“Wer ist Charlie?”
“Der Hund. Er war ein Streuner, und die Schwestern haben ihn adoptiert. Er mag mich, weil ich ihm immer meine grünen Bohnen gebe.” Sie wurde mit einem Mal ernst. “Ich möchte auch einen Hund haben. Meinst du, Mama erlaubt mir einen, wenn sie wiederkommt?”
“Das weiß ich nicht, da musst du sie selbst fragen.”
Das Kind sah Syd mit seinen blaue Augen eindringlich an. “Wann wird Mama wieder da sein?”
“Bald.” Syd musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
“Und Omi? Wann kommt
sie
wieder zurück?”
Armer Schatz, dachte Syd, sie muss ja glauben, dass sie von allen im Stich gelassen wird. “In ein paar Tagen. Sobald sie wieder da ist, kommen wir dich zusammen besuchen. Würdest du dich darüber freuen?”
“Ja!”
Das war zwar so
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