Das Prinzip Selbstverantwortung
dem Missverständnis mit Karacho in die Arme zu rennen. Ein völliger |88| Verzicht auf Ziele hieße, sich hinter Klostermauern zurückzuziehen. Ziele nützen der Orientierung und geben dem Handeln Richtung. Gemeinsam vereinbarte Ziele bündeln Energien. Und Führungskräfte brauchen Voraussicht, um Gefahren abzuwenden und das Überleben des Unternehmens auch langfristig zu sichern. Keine Frage: Verantwortlich handeln heißt auch sehen, wohin wir gehen.
Erwartungen an die Zukunft zu haben bedeutet jedoch nicht, dass das Ziel den Weg rechtfertigt. Es ist genau umgekehrt: der Weg rechtfertigt das Ziel. Auch Commitment ereignet sich nicht so sehr durch Ziele oder Zukunftsideen, sondern in der personalen Erfahrung des gemeinsamen Weges. Dazu bedarf es der Beziehung, der Glaubwürdigkeit, der Nachbarschaft. K. Weick hat – in vollständigem Gegensatz zu den gängigen Unternehmenskonzepten – aufzeigen können, dass keineswegs eine gemeinsame Zieldefinition Menschen zusammenarbeiten lässt, sondern der gemeinsame Weg. Die Zielidee geht davon aus, dass man Menschen gewissermaßen von außen eine Zielidee implementieren könne. Jeder Mitarbeiter eines Unternehmens verfolgt, was immer er auch tut, seine eigenen, »innen« definierten Werte, Normen, Ziele. Was alle verbindet, ist der Weg. Dieser gemeinsame Weg ist das Unternehmen: das Spielfeld, diese Werte umzusetzen. Spielen, um das Spiel zu beenden? Spielen, um zu spielen!
Mehr noch und von großer erlebnispraktischer Auswirkung für das Unternehmen: Mag sein, dass sich die Unternehmensspitze permanent mit Zielen beschäftigt. In der Fläche des Unternehmens spielen Ziele kaum eine Rolle. Erlebt wird das »Wie«, die Stimmung, die Atmosphäre, alles das, was zum Weg gehört. Mit Zielen beschäftigen sich die Mitarbeiter nur zu einem verschwindend kleinen Zeitanteil. Das ist nicht unklug: Wer permanent an den Zielen klebt, ist nirgendwo. Wenn ich mir aber anschaue, wie viel Energie von den Leitungsebenen in das Finden und »Implementieren« von Zielen investiert und wie wenig Aufmerksamkeit dem erlebnispraktischen »Wie« gewidmet wird, dann ist an der Weisheit des Vorgehens zu zweifeln.
Das Problem entsteht also erst, wenn man sich so auf das Ziel versteift, dass einem der Weg der Gegenwart keine Freude mehr |89| bereitet. Ralph Waldo Emerson: »Wir stehen immer kurz davor zu leben.« Commitment heißt: Belohnung zu finden im Ereignis des Augenblicks. Gemeint ist die Fähigkeit, Aufmerksamkeit willentlich auf eine Aufgabe zu richten, sich nicht ablenken zu lassen und sich zu konzentrieren.
Es geht mir hier um die Konzentration der Energie im situativen Erleben. Wer Glück und Zufriedenheit nur bei etwaiger Zielerreichung erlebt, wer zwanghaft ein Ziel verfolgt – der ist nicht mit aller Energie hier und jetzt bei der Sache, sondern immer mit einem Teil seiner Energie woanders, im Morgen. (Unsere Elterngeneration nannte das »sich krumm legen« für eine vermeintlich bessere Zukunft.) Er tut nicht, was er tut, sondern weil er später mal etwas tun will: ein Mensch, der nach der Grammatik des Wiederverkaufswertes lebt. Er erfährt das Jetzt als »Noch-nicht«-Zustand, mithin als defizitär – und genau das ist der Grund für halbherzige Aktionen, unteroptimale Ergebnisse und letztlich – Zielverfehlung. Er kommt nie an, weil er nie da ist, wo er ist. Er hat immer ein Alibi – was übersetzt »woanders« heißt. Und ist damit wieder nicht verantwortlich. Weil er
jetzt
nicht »antwortet«. Oliver Cromwell soll gesagt haben: »Nie steigt ein Mann höher, als wenn er nicht weiß, wohin er geht.«
Die Energie ins Jetzt zu konzentrieren will also nicht heißen, eine totale Augenblicklichkeit zu leben. Der Vorgriff auf Zukünftiges soll nur insoweit relativiert werden, als das Gegenwärtige nicht abgewertet wird und wir uns nicht ablenken, beunruhigen lassen. Alles, was uns ängstigt, ist der Blick in die Zukunft. Handeln aber können wir nur jetzt.
Die Freude an der unmittelbaren Erfahrung treibt Individuen zu Kreativität und ungewöhnlichen Leistungen an. Und dieser Genuss ist abhängig von der Fokussierung der Energie. Der Tennisspieler Pete Sampras, nach seinem Erfolgsrezept befragt: »Ich versuche nie, ein Turnier zu gewinnen. Ich versuche auch nie, einen Satz oder ein Spiel zu gewinnen. Ich will nur diesen Punkt gewinnen.« Oder, näher am betrieblichen Alltag, Edgar Thoms, einer der erfolgreichsten Bezirkskommissare der Provinzial-Versicherungen: »Ich denke nie
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