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Das Prinzip Selbstverantwortung

Titel: Das Prinzip Selbstverantwortung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard K. Sprenger
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oder schlechter, höchstens praktischer und brauchbarer für bestimmte Zwecke.
    Oder aber: Führung kann zaubern. Durch eine Beförderung wird aus dem Mitarbeiter plötzlich wie durch ein Wunder ein »Vorgesetzter«. Der Betriebssoziologe Goetz Briefs schrieb schon 1931, dass durch die Beförderung zum Vorgesetzten Bekannte zu Fremden gemacht würden, die sich dann genötigt sehen, wie Bekannte zusammenzuarbeiten. Der Beförderte selbst mag sich so fühlen wie zuvor, ja vielleicht will er sogar in der alten Kollegialität weiterleben. Es geht nicht: Er wird von seinen ehemaligen Kollegen anders
erlebt
. Ein anderer Mensch ist geboren. Wo gerade noch zwei Kollegen am Kantinentisch zusammensaßen, sitzen nun – Hokuspokus! – ein Chef und ein Mitarbeiter. Das Gespräch nimmt einen anderen Verlauf, Mimik und Gestik verändern sich; plötzlich gibt es Themen, über die man nicht mehr spricht. Im Gehirn des gerade »erzeugten«
Mitarbeiters
läuft neben dem Film »Was will ich ihm sagen?« der Zusatzstreifen »Wie beurteilt er mich jetzt?«. Beim Chef läuft neben dem Videoband des eigentlichen Gesprächsthemas die Gefühlsspur »Will er mich beeindrucken?« oder »Ist das ein guter Mitarbeiter?«. In Abwandlung einer bekannten Formel Watzlawicks:
Man kann
nicht nicht führen
. Alles wird als Verkündigung oder Aufforderung verstanden. In einer Coaching-Situation sagte mir ein Bereichsleiter |100| : »Ich kann kaum einmal laut denken, schon fangen alle Räder an zu drehen und halten es für eine Anweisung.«
    Eine Lektion: Erst als ich vor etlichen Jahren die 3M verließ, hatte ich begriffen, dass mein Geschäftsführer, mit dessen Unternehmensführung ich häufig nicht einverstanden war, in einem völlig anderen Unternehmen arbeitete als ich. Oh ja, wir erhielten beide unser Geld vom selben Gehaltsbüro. Aber wenn
er
über das Unternehmen nachdachte, wenn
er
Entscheidungen vorbereitete, wenn
er
über firmeninterne Prozesse sprach, dann hatte er völlig andere innere Bilder im Kopf. Er hörte völlig andere Stimmen, die ihm bei seinen Entscheidungen zuflüsterten, er hatte andere Erfahrungen, andere Adressaten, andere Interessen, andere Wertmaßstäbe. Die Putzwut unternehmenskultureller Konformität kann das nicht tilgen. Und je größer ein Unternehmen ist, desto unverstehbarer sind Top-Down-Entscheidungen. Nicht, weil »die da oben« blöd sind. Sondern weil sie in einer anderen Wirklichkeit leben. Kurz: Wir arbeiten nicht alle im selben Unternehmen.
    So gesehen verhält sich jeder Mensch immer und überall ökonomisch-rational. Sein Verhalten ist immer sinn-voll. Es ist voller Sinn. Aus seiner Sicht. Aber einen anderen Maßstab als »seine Sicht« gibt es nicht, obwohl ein anderer für sich insgeheim einen »besseren« Zugang zur Wahrheit, eben »objektive« Kriterien reklamiert. Deshalb mag ein Verhalten aus der Sicht eines anderen Beobachters noch so »ver-rückt« erscheinen: aus der Innenperspektive ist es sinnvoll. Und es ist wenig hilfreich (»Das ist doch Blödsinn!«), ihm diesen Sinn streitig machen zu wollen. Aus seiner Sicht handelt jeder
immer
rational und ökonomisch.
    Fünf Komma sieben, Fünf Komma sechs, Fünf Komma neun
    Das gilt auch für Werturteile: »Es ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst« (Johann Gottlieb Fichte). Ich will auf diesen Punkt zu einem späteren Zeitpunkt vertieft eingehen, daher hier nur soviel: Urteile illustrieren vorrangig |101| die Eigenschaften und Perspektiven des Beurteilers, nicht des Beurteilten. Wenn Sie die Wirklichkeit über den anderen suchen, finden Sie immer nur sich selbst. Sie entdecken z. B. nicht den Mitarbeiter, »wie er wirklich ist«, sondern wie Sie ihn
erschaffen
.
Alle Beurteilung sagt also immer mehr über den Beurteiler aus als über den Beurteilten.
    Jeder bewertet nämlich das Handeln eines anderen (eine Dienstleistung oder ein Produkt) nach einem individuellen Wertsystem. Was eine Ware ist, kann nicht vom Anbieter bestimmt werden. Es wird vom Käufer bestimmt. Auch im Innenverhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeiter: Sie meinen vielleicht, dem Mitarbeiter einen Dienst erwiesen zu haben, den der Mitarbeiter aber gar nicht als »Dienstleistung« anerkennt. Weil er eben andere Werte hat. Sie ärgern sich über Undankbarkeit; der Mitarbeiter wundert sich über Ihre offenen oder versteckten Gegenleistungsforderungen.
    Das ist die radikale Autonomie der Wertzuschreibung: Ob eine Dienstleistung wirklich

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