Das Prinzip Selbstverantwortung
in »Mythos Motivation« hineinlasen, z. T. Gedanken, die mir völlig fern lagen. Einige darunter waren mir ausgesprochen unangenehm. Nicht selten hatte ich den Eindruck, dass einige ein völlig anderes Buch gelesen hatten. Und so werden auch diesmal wieder viele genau das aufnehmen, was sie eigentlich immer schon wussten.
Ebenso frappierend: zu erleben, dass Teilnehmer aus Seminaren eine Denkfigur als besonders wichtig erinnern, die ich nur mit einem Nebensatz erwähnt hatte, der aus meiner Perspektive auch nur randständiger Wert zukam. Aber das habe ich anerkannt: Jeder schaut sich während des Seminars fortwährend sein inneres Heimkino an.
Die Subjektgebundenheit aller Erkenntnis, Wahrheiten und Werte aber hat wichtige Konsequenzen. Wählen wir als Beispiel das unternehmenskulturelle Zauberwort »Vision«.
|129| Diesseits der Vision
Neue Werte braucht das Unternehmen! Wer heute im Unternehmen führen will, muss »Visionen« haben und sich mit ihnen dem Verfall der traditionellen Leistungsmoral entgegenstemmen. Der Verdacht, die innere Verfasstheit der Unternehmen könnte etwas mit unverantwortlicher Führung zu tun haben, verschwindet in den Kulissen der Corporate Identity, und ein Chor dunkler Klageweiber betritt die Bühne. Ihr Refrain: Die Welt ist ja so komplex geworden.
Um die Stimmung zu heben, muss man offenbar die Ansprüche senken. Und so führt der unternehmenskulturelle Karneval allerorts seine Lieblingsmaske »Vision« durchs Jahr. Wenn früher jemand gesagt hätte, er habe eine Vision, den hätte man wahrscheinlich zum Arzt geschickt. Heute wird er zum Arzt geschickt, wenn er
keine
Vision hat. Dann gilt er als »nicht-visionäre Führungskraft«. Und das entrückende Adjektiv »visionär« veredelt auch noch das platteste Zukunftsgefasel zur Heilsbotschaft. Austauschbar. Konturlos. Unverbindlich. Von den tatsächlichen Inhalten dieser Visionen kennt man vor allem den Lärm, den sie machen.
Was das soll? Die Funktion ist klar: Reduktion der Unternehmenskomplexität, Kanalisierung der Eigendynamik driftender Unternehmensteile, Identitätsbedarf, Kompensation des Vertrautheitsschwundes, Vermittlung von Geborgenheit im Zusammengehörigkeitsgefühl, Vitalisierung des Gesamtsystems. Da können die beiden Harvard-Professoren John P. Kotter und James L. Heskett vergeblich nach einer positiven Korrelation zwischen Unternehmensvision und Unternehmenserfolg suchen, egal: die Zukunfts-Party läuft.
Die Unternehmensleitungen vermögen dabei selten der Versuchung zu widerstehen, die dafür geeigneten Inhalte von oben und normativ vorzugeben. Mehr noch: Nicht selten werden sie den Mitarbeitern gusseisern dahingeklotzt wie weiland die Zehn Gebote dem Moses vor die Füße. Der Jubel hält sich in Grenzen. Vision wird zur »Glaubenssache«. Diese muss die Unternehmensleitung dann gegen Widerstand und Skepsis »durchsetzen«. Die |130| Flucht in autoritativ vorgegebene »Werte«, die eben gar keine gemeinschaftlich vereinbarten Orientierungen, sondern irgendwo, meistens an der Unternehmensspitze, getroffene Anordnungen über die »Unternehmensgemeinschaft« sind, zeugt dabei von wenig mehr als vom autoritären Dunst geistiger Hinterzimmer. Wenn ich Worte dunklen historischen Angedenkens wie »Ausrichtung« an Gemeinschaftsideen oder »Verankerung« von Werten lese, fahre ich noch immer erschrocken zusammen.
Ich sei da überempfindlich? Mag sein, nur ist es manchmal dringend nötig, überempfindlich zu sein. Wer solche Utopien der Gegenwartsflucht ausschwitzt, sollte mal mit Bürgern der ehemaligen DDR reden, denen man jahrzehntelang die realen Anpassungszwänge als Visionen verkaufte. (»Früher hieß es
Planfortschreibung
, heute
revised budget
.«) Aber offensichtlich reicht die gerade in Deutschland seit Jahrzehnten verfügbare Erfahrung, dass jede von oben oktroyierte Sinnkonstruktion an dem realen Erleben einer anders gearteten individuellen Wirklichkeit zerschellt, nicht aus, den modernen Macher-Traum eines formierten Unternehmens in Misskredit zu bringen: umfassende Qualität hier und jetzt, Marktführerschaft ein Jahr später, ganz en passant radikale Veränderung der Unternehmenskultur.
Die Vision basiert auf dem Glauben, dass Arbeitnehmer sich mit den Unternehmenszielen identifizieren. Diese Überzeugung wiederum gründet auf dem Glauben an eine einheitliche Sicht der Organisation. Die derzeit modische Hirtenbriefmentalität betont daher gemeinsame Werte, Rituale, Symbole und Mythologien, die als
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