Das Prinzip Selbstverantwortung
Firmenkitt alle Unternehmensmitglieder richtungsgleich zusammenschweißen sollen: offenbarter Eindeutigkeitssinn.
Die Subjektabhängigkeit aller Erkenntnis jedoch bestimmt, allen voran, das Individuum einzigartig und unentbehrlich als den Ort, an dem Wirklichkeit und Sinn produziert werden. Aller Sinn ist individuell erschaffen und subjektgebunden. Immer bin »ich« es, der der Welt Sinn gibt. Es heißt ja auch Sinn-»Gebung« und nicht Sinn-»Nehmung«.
In den oberen Stockwerken aber artikuliert sich das Abenteuer der Verallgemeinerung, die gegen den Konkretismus des kleinräumigen Alltags das Zusammengehören im Großen setzt. Betrachten |131| wir irgendeinen der unternehmenskulturellen Großtexte, so ist nach den bisherigen Überlegungen nicht vorhersehbar, wie der Leser reagiert, da diese Texte nicht »ins Bewusstsein dringen«, sondern lediglich Anlässe für eigenständige Denkvorgänge bieten. Das erklärt die Wirkungslosigkeit vieler »messages«, die von CEOs im Quartalsabstand auf die Unternehmen heruntergestürzt werden.
Für ein Anwendungsbeispiel zitiere ich einen Satz, der sich so oder ähnlich in vielen Unternehmenbroschüren findet: »Der Mensch ist die wichtigste Ressource in unserem Unternehmen.« (Niemand lacht.) Gefahrlos lässt sich für diesen Satz von allen Seiten Beifall ernten. Aber was bedeutet er? Sagt er etwas? Teilt er etwas mit? Und wenn er etwas aussagt – ist er in dieser Aussage wenigstens näherungsweise eindeutig? Ich habe Mitarbeiter eines Unternehmens eingeladen, ihre Reaktionen auf diesen Satz in kurzen Stichworten zu Papier zu bringen. Einige Auszüge:
»Toll! Zu schön, um wahr zu sein.«
»Floskel eines Geschäftsführers ohne jede Glaubwürdigkeit.«
»Der Satz ist richtig, aber so wird bei uns mit Menschen nicht umgegangen.«
»Blabla. Der Mensch ist nur ein Mittel zu Zweck.«
»Das ist für mich eine Beleidigung. Menschen
sind
das Unternehmen, und nicht irgendwelche Input-Geber.«
»Richtig. Ressourcen sind dafür da, verbraucht zu werden.«
»Das ist zwar noch nicht so, aber wir sind auf einem guten Weg.«
»Besser noch als Mensch = Produktionsfaktor.«
In einer vierzehnköpfigen Mitarbeitergruppe gab es nicht zwei Reaktionen, die dem Sinn oder Wortlaut nach auch nur annähernd ähnlich waren! Die Subjektgebundenheit unserer Antwort – unsere Selbst-ver-Antwortung – entlarvt das visionäre Firmament der Firma als pubertäre Vergeblichkeit. Menschen sind keine trivialen Maschinen. Sinn kann nicht – wie wir gesehen haben – »geboten« werden, sondern muss von jedem Mitarbeiter ganz individuell
geschaffen
werden. Es gibt keine gemeinsamen, ein für allemal festgelegten Werte. Es gibt nur das
Gespräch über Werte
, |132| d. h. wir müssen den Diskurs über Werte im Fluss halten und fortwährend thematisieren.
Wo über »den Sinn« raunend und ambitiös jedweder Unsinn verbreitet wurde (»Kommunikation im Sinnjahrzehnt«!), durfte zwar schon immer bezweifelt werden, dass die allgemeine Visionsgeschwätzigkeit über das Antreiben und Ankurbeln hinaus so etwas wie »den Sinn« im Sinn hatte. Aber der verdeckte Preis ist hoch. Mal zur Erinnerung: Auf der Basis eines marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems besteht der Sinn von Unternehmen darin, Güter und Dienstleistungen zu produzieren und zu verkaufen. Hierbei gilt zwingend das ökonomische Prinzip. Das ist die Geschäftsgrundlage. Das muss zwischen Partnern im Unternehmen klar sein. Dem kann der Einzelne auch eine persönliche Sinngebung hinzufügen. Unbenommen. Aber dazu ist keine unternehmensübergreifende Sinnbewirtschaftungsmaßnahme erforderlich. Sie ist sogar schädlich,
weil sie Klarheit und persönliche
Verantwortung vernebelt.
Denn wichtig für das Thema Selbstverantwortung im Unternehmen: die Vision oder die Corporate Identity stehen in der langen Tradition einer Sinnstiftung durch Außenhalt, vergleichbar mit tradierten Gottesvorstellungen. Angestrebt wird eine emotionale Gleichschaltung aller Mitarbeiter, die geschlossen hinter der Unternehmensvision herstürmen, was einer Abwehr des Besonderen, letztlich einer Individualitätsauslöschung nach japanischem Vorbild gleichkommt. Persönliche Verantwortung hingegen resultiert aus der
eigenen
Entscheidung, der
eigenen
Antwort, nicht der Berufung auf eine höhere Instanz. Das macht den Unterschied. Quasi-religiöse Entlastungen entlasten auch von persönlicher Verantwortung. Selbstverantwortung ade!
Identifikation?
Für eine
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