Das Prinzip Terz
Einfallstore des Luftzuges, heute waren es Smog und gewachsene Strukturen. Den weniger Betuchten blieb damals wie heute jenes Ende der Stadt, in das der Wind von Abgasen bis Müll alles mitbrachte, was er auf seiner Reise durch Straßen, Gassen und Kanäle bereits aufgelesen hatte.
Fredo Tönnesens Eltern lebten in Hamburgs östlichstem Stadtteil Farmsen.
Terz parkte seinen Wagen vor dem gesichtslosen, vielstöckigen Siedlungsbau. Das Treppenhaus zwang ihm Udo Jürgens’ Zeilen »– es roch nach Bohnerwachs und Spießigkeit« in den Kopf. Immerhin nicht nach Pisse, und die Wände waren frei von Graffiti.
Ein kleiner gedrungener Mann begrüßte ihn mit misstrauischem Blick. Die winzige Wohnung mit Sechziger-Jahre-Flair war eine Räucherkammer.
»Ich dachte, die Sache ist erledigt«, bellte Tönnesen senior und hustete.
»Wir müssen noch ein paar Fragen stellen.«
»Bei einem Herzinfarkt?« Er zündete sich eine Filterlose an, mit Händen, so groß wie sein Gesicht.
»Vielleicht war es kein einfacher Herzinfarkt.«
»Hat ihn wer abgemurkst? Würde mich auch nicht wundern.«
Frau Tönnesen saß stumm neben ihrem Gatten.
Terz war beeindruckt von so viel Vaterliebe. »Warum?«
»Hat immer nur Schwierigkeiten gemacht, die Schwuchtel. Mit vierzehn ist er abgehauen. Seitdem hab ich ihn praktisch nicht mehr gesehen.«
»Und Sie, Frau Tönnesen?«
Die Augen in dem zerfurchten Gesicht waren zu dunklen Löchern geschminkt, vom Mund war nur ein bitterer Strich übrig, und die mit knallrotem Lippenstift auf der umliegenden Haut gemalten Lippen zerliefen in einem Faltengespinst. Die schwarz gefärbten Haare hatte sie unordentlich hochgesteckt, um den grauen Nachwuchs zu verbergen.
»Ich habe ihn selten gesehen.« Ihre Stimme war rau von Jahrzehnten Alkohol und unterdrückten Tränen.
»Wann zuletzt?«
Ihr Blick glitt an Terz vorbei ins Nichts. Obwohl sie nicht rauchte und die Wohnung vernebelt war, öffnete niemand ein Fenster.
»Vor ein paar Monaten.«
Ihr Mann sah mürrisch zu ihr hinüber. Er drückte seine Zigarette aus und zündete eine neue an.
»Fiel Ihnen etwas auf? Hat er etwas erzählt?«
Herr Tönnesen schien seine Lunge auskotzen zu wollen: »Was soll er erzählen? Wie er anderen Typen einen runterholt?«
»Ich habe Ihre Frau gefragt«, fuhr Terz ihn an.
Überrascht verstummte Tönnesen.
»Mir ist nichts aufgefallen«, antwortete seine Frau leise.
»Haben Sie irgendetwas aus dem Nachlass Ihres Sohnes?«
Vater Tönnesen fuhr mit der Zigarette durch die Luft und bestreute sich mit Asche. »Von dem wollen wir nichts.«
Terz ignorierte ihn und erhob sich. »Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie bitte an.« Er reichte Frau Tönnesen eine Karte.
Sie begleitete ihn zur Tür. »Wurde … wurde er ermordet?«
Sein Blick ruhte auf ihrem grotesk verschminkten Gesicht. Dass diese zwei Menschen einen so hübschen Sohn gehabt hatten.
»Er starb schmerzlos.«
Tönnesens Arbeitskollegen mussten warten. Terz hatte Wichtigeres zu tun. In seinem Büro setzte er sich mit einer Tasse dampfenden Kaffees an den Computer. Er tippte das Kennzeichen seines morgendlichen Verfolgers ein. Der schwarze Alfa war zugelassen auf einen gewissen Ansgar Biel. Adresse: Isestraße. Ums Eck. Im selben Karree wie das Haus mit der Terz’schen Wohnung. Zum Hof, konnte man annehmen.
Zufrieden lehnte Terz sich zurück und trank seinen Kaffee. Herr Biel besaß noch das Tonband. Das hätte Terz gern gehabt. Auch wenn Sandels Leiche von der Terrasse verschwunden war, man konnte Terz’ Stimme erkennen. Es bedurfte zwar vieler Zufälle, um die richtige Verbindung herzustellen, und noch mehr Glück, eine Sprachprobe von Sandel zu finden. Doch Kommissar Glück half oft. Und nicht nur ihm. Wer hätte gedacht, dass er je in diese Situation kommen würde? Nein, dem Glück durfte er so wenig Chancen wie möglich geben. Fremdem Glück, um genau zu sein.
Biel. War der Mann verheiratet? Wusste seine Frau von der Geschichte? War sie womöglich die Erpresserin? Er musste mehr über ihn herausfinden. Der Computer meldete, dass Biel nicht vorbestraft war. Und ledig.
Außer Sammi nahmen alle Terz’ Anregung begeistert auf, die übliche Tagesbesprechung zur Abwechslung in einem Biergarten im nahen Stadtpark abzuhalten. Perrell und Terz holten Getränke.
Weder die Befragung der übrigen Männer noch der verbliebenen Frauen hatte etwas ergeben.
»Ganz schön heikel manchmal, diese Befragungen«, fand Maria Lund. »Die wollen
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