Das Programm
so entsetzlich, dass er die einfachsten Aufgaben nicht mehr verrichten konnte. Er vermochte kaum noch zu reden. Als Chris ihm von Lenkas Tod berichtete, hatte er wie ein Schlosshund geheult. Er tat Chris Leid, und auf eine etwas komplizierte Weise war er auch erfreut, dass Lenka für Ollie eine solche Bedeutung gehabt hatte, obwohl sie sich manchmal über ihn lustig gemacht hatte. Chris überließ ihn fünf Minuten seiner Trauer, aber nur fünf Minuten. Er brauchte Ollie. Ollie war intelligent und kannte sich mit den Abläufen bei Carpathian aus wie kein anderer. Ollie musste erwachsen werden. Auf der Stelle.
Tina war aus härterem Holz geschnitzt. Sie war eine außerordentlich tüchtige Person, neunzehn Jahre alt, kam aus Ongar, konnte den Kopierer reparieren, wenn Ollie ihn kaputt gemacht hatte, und wies die Wertpapierhändler energisch in ihre Schranken, wenn sie plump-vertraulich wurden. Während Chris’ Abwesenheit hatte sie sich um das Telefon gekümmert. Sie hatte zwar wenig Erfahrung und Kenntnisse im Finanzwesen, trotzdem konnte Chris sich auf sie verlassen. Allem Anschein nach spürte sie seine Entschlossenheit, Carpathian zu retten – und teilte sie.
Alle vier hatten sie in einem einzigen großen Raum gesessen. Lenkas und Chris’ einziges Privileg war gewesen, dass sie von ihren Schreibtischen auf den Platz draußen blickten. Das gesamte Büro bestand aus diesem Raum, einem Empfangsbereich, einem Konferenzzimmer, einer Küche und einem Alkoven für Kopierer, Fax und Computerausrüstung. Groß war es nicht, aber hell, luftig und praktisch. Eine amerikanische Freundin von Lenka hatte es entworfen und eingerichtet. Das hatte nicht viel gekostet, bis auf die elegant geschwungene Wand im Empfangsbereich, die ein Fresko in wirbelnden Blautönen zeigte. Chris und Lenka waren uneins gewesen: Lenka hatte die Wand gefallen, Chris hatte sie zu unseriös gefunden.
Schließlich hatte sich Chris mit ihr einverstanden erklärt.
Chris warf einen Blick auf Lenkas Schreibtisch. Leuchtend lila und orangefarben stand ein Blumenstrauß in einer hohen Kristallvase. »Paradiesvögel« würden sie genannt, hatte sie gesagt. In der Blumenhandlung um die Ecke hatte sie sich jede Woche einen neuen Strauß gekauft. Nach kurzem Zögern warf Chris die Blumen in den Mülleimer. Es schien ihm unrecht, dass sie so bunt und lebendig waren, als hätten sie die Neuigkeit noch nicht vernommen. Doch die leere Vase ließ er stehen. Unter ihrem Schreibtisch lagen vier Paar fast neue Schuhe. Lenka hatte immer gesagt, am besten könne sie barfuß denken. Gelegentlich hatte sie sogar Besucher mit bloßen Füßen empfangen. Chris hatte einige Monate gebraucht, um herauszufinden, wie sich an ihrem Arbeitsplatz so viele Schuhe ansammeln konnten; gewiss ging sie nicht barfuß nach Hause. Die Antwort war, dass sie in die Bond Street ging, wenn die Märkte gegen sie waren, und sich ein neues Paar kaufte, das sie, zurück im Büro, prompt von den Füßen streifte.
Doch Chris hatte keine Zeit, seinen Gedanken an Lenka nachzuhängen. Er prüfte die Kurse ihres Portfolios. Der Markt machte Sperenzchen. Der russische Finanzminister war wegen eines Korruptionsskandals zurückgetreten, und nun schwächelte Osteuropa. Die große Eureka-Telecom-Position war um fünf Punkte gefallen. Chris musste herausfinden, was Lenka mit ihr vorgehabt hatte. Aber auch das konnte warten. Er hatte nicht vor, im Laufe der nächsten Tage irgendwelche Transaktionen vorzunehmen.
Er führte ein kurzes Telefonat mit Ian Darwent. Ian war noch immer bei Bloomfield Weiss; er verkaufte jetzt europäische Hochprozenter. Von ihm hatte Lenka die Eureka-Telecom-Anleihen erworben.
Das Gespräch war zähflüssig. Ian hatte den Kontakt zu Chris abgebrochen, als dieser Bloomfield Weiss verlassen hatte. Das konnte Chris ihm nicht vergessen. Offenbar wusste auch Ian nicht so recht, wie er sich Chris gegenüber verhalten sollte, vor allem, seit Carpathian ein Abnehmer von europäischen Hochprozentern war. Daher waren sie stillschweigend übereingekommen, dass Ian mit Lenka verhandelte. Das musste sich jetzt ändern. Tina hatte Ian am Tag zuvor berichtete, was Lenka zugestoßen war, daher tauschten sie jetzt nur ein paar oberflächliche Bemerkungen über ihren Tod aus. Chris war sich sicher, dass Ian aufrichtige Trauer empfand, aber er war nicht bereit, Ian dabei zu helfen, seine in Nobelinternaten erworbene Scheu vor emotionalen Fragen zu überwinden. Sie beendeten ihr Gespräch mit der
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