Das Prometheus Mosaik - Thriller
Flut der über sie hereinbrechenden Reize nicht Herr. Das Zwitschern der Vögel dröhnte in ihren Ohren. Der Duft frischer Luft splittete sich in ihrer Nase auf in die Unzahl einzelner Gerüche, die ihn in ihrer Gesamtheit ausmachten, und darüber drohte ihr der Kopf zu zerplatzen. Und vor ihren Augen drehte, zerfiel und formte sich die Welt immer wieder neu wie das Bild in einem Kaleidoskop. Die mit ihren Gliedern und Leibern ineinander verschlungenen Fantasiegestalten, die das Balkongeländer bildeten, schienen ihre eiserne Starre abzuschütteln und sich auf sie zu stürzen mit klaffenden und grinsenden Mäulern, mit glotzenden Augen und nicht zählbaren Armen, Krallen und Klauen.
Blindlings tastete Katharina nach dem Rahmen der offenen Balkontür, den sie hinter sich wähnte. Doch erst ging ihre Hand ins Leere, und dann berührte sie etwas, das sich selbst bewegte und sich ihr entgegendrängte.
Wieder aus dem Augenwinkel sah sie etwas gräulich Weißes, etwas, das wie ein lange eingesperrtes Gespenst zur Tür herauswollte.
Die Gardine, die der Wind bewegte?
Ja, die Gardine.
Aber nein, es war nicht der Wind, der sie bewegte.
Denn der Wind hatte keine Hand, und der Wind hatte kein Gesicht.
Nicht dieses geisterhaft blasse Gesicht, dessen Züge Katharina aus jahrzehntelanger Erinnerung heraus in Ton modelliert hatte und dessen Abbild wie eine bizarre Jagdtrophäe inmitten vieler anderer an der Wand ihrer Schlafkammer hing.
Dann fühlte Katharina sich von der Hand gestoßen, und das Gesicht aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben sah ihr, leibhaftig und nicht nur als Maske, nach, wie sie über das Geländer in die Tiefe stürzte.
***
Ein Strahl der noch tief stehenden Sonne fiel wie ein gezielter Schuss durch das Fensterchen, traf die Frau, die über zwanzig Jahre lang Marie Thon und Musiklehrerin gewesen war, zuletzt in Weimar, und löste sie aus dem Dämmer der Villa heraus. Sie blieb stehen, lange genug, um beobachten und spüren zu können, wie der einzelne, wärmende Sonnenstrahl über sie strich. Sie genoss diese Berührung mehr als die der Hand eines Menschen. Die Berührung anderer Menschen war ihr immer schon zuwider gewesen und mithin der unliebsamste Part ihrer Profession.
Leichtfüßig huschte sie weiter die schmale Treppe hinab, im Ohr bereits die Melodie einer Nocturne, keine neue, sondern eine der unvollendeten. Heute jedoch strebte das Stück seiner Vollendung zu, die Töne fügten sich in ihrem Kopf lautlos und wie von selbst aneinander. Auch der Titel stand schon fest, seit Langem …
… oder wäre ›Katharina‹ passender?
Dieser Name war, genau genommen, der ältere, länger getragene.
Einen Augenblick lang erwog sie, der Frau, die wie tot vorm Haus lag, die Kehle durchzuschneiden, nur um ganz sicherzugehen; ihre Finger tasteten in der Tasche bereits nach dem entsprechenden Werkzeug. Dann verwarf sie den Gedanken, widerstand dem Impuls des Augenblicks. Zum einen durfte sie niemanden mit der Nase darauf stoßen, dass die Frau ermordet worden war – und zum anderen sollte sie doch ruhig leiden, langsam sterben, krepieren. Sie hatte es nicht anders verdient nach allem, was sie angerichtet hatte.
Trotzdem musste sie noch kurz zu ihr. Eine Spur auslöschen. Ein Lächeln flog über ihre Lippen. Ihre Hand schloss sich ein wenig fester um das Säurefläschchen.
Sie hoffte, dass ›Katharina‹ noch so lange am Leben blieb. Denn die Tilgung dieser Spur würde wehtun …
Das süße, das wunderbare Gefühl von Genugtuung, das sie ihrem Beruf zum Trotz nur selten empfand, verflog, als sie aus der Villa trat und das Geräusch hörte.
Ein Auto näherte sich. Jemand kam, und es tat nichts zur Sache, wer es war; einen zweiten ›Unfalltod‹ konnte sie nicht inszenieren, nicht auf die Schnelle, nicht jetzt, wo es hell wurde, auf einem Terrain, das sie nicht wirklich kannte.
Rückwärts bewegte sie sich zur Hausecke, den Blick auf die Schwerverletzte gerichtet, die vor der Freitreppe lag. Die unterste Stufe wies einen Fleck auf, der im schwachen Morgenlicht nur dunkel, nicht rot war.
Ein weißer Kastenwagen tauchte zwischen den Bäumen auf, die entlang der Einfahrt standen. Backwaren Voss – Immer frisch auf Ihren Tisch, stand auf der Seite des Fahrzeugs zu lesen.
Nicht einmal mehr zum Bäcker zu gehen hat sich das feige Aas getraut, dachte die Frau, die nicht länger Marie Thon war.
Ihr eigener Rückzug hingegen hatte nichts mit Feigheit zu tun. Er entsprang reinem Kalkül, wurde ihr
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