Das Prometheus Mosaik - Thriller
taub geworden, buchstäblich. Ihr Gehör hatte sich abgeschaltet, war abgestorben, wie schon fast alles andere in ihr.
Was in den Sekunden danach geschehen war, daran hatte Sara keine Erinnerung. Sie konnte sich allenfalls zusammenreimen, was passiert sein musste: Der Fahrer des anderen Wagens musste ihre Situation erkannt haben, hatte gestoppt, war ausgestiegen und hatte sie zum Kotzen gebracht, um ihr danach etwas zu verabreichen, das ihren Zustand allmählich verbesserte.
Ein Arzt vielleicht, Glück im Unglück, Rettung aus höchster Not …
Hoffnung gesellte sich zu der Angst um das eigene Leben, die sie immer noch beherrschte. War es denn wirklich vorbei?
Sie wollte ein Gefühl der Erleichterung in sich heraufbeschwören, wollte sich freuen, gerade noch einmal Glück gehabt zu haben.
Es gelang ihr nicht.
Die eine Gefahr, die unmittelbare für ihr Leben, mochte vielleicht ausgestanden sein. Nur war diese Gefahr nicht die einzige. Hinter jeder einzelnen offenen Frage, die es gab, mochte sich eine weitere Gefahr verbergen.
Was hatte dieses Weib ihr da eingeflößt, wie wirkte es – wie wirkte es nach?
Was war es, das ihr jetzt jemand zu schlucken gegeben hatte?
Wer hatte es ihr gegeben?
Wo ist Paul …?
Immer noch nicht fähig, sich gezielt zu bewegen, versuchte Sara, wenigstens eine dieser Fragen zu formulieren. Mehr als ein unartikuliertes »Was …?« wurde jedoch nicht daraus.
Der Fremde, ihr Lebensretter, antwortete trotzdem darauf, doch Sara verstand ihn nicht. Ihr Gehör hatte sich noch nicht wieder ganz eingeschaltet. Sie schnappte etwas auf, das klang wie »Panazee«, ein Wort, das ihr bekannt vorkam; ihre Suche nach seiner Bedeutung verlief allerdings in dem Sand, der immer noch im Getriebe ihres Denkens knirschte.
Sie bewegte sich. Das erschreckte sie, weil sie es nicht aus eigener Kraft tat. Der Mann – dass es ein Mann war, hatte ihr die Stimme verraten – schleifte sie fort vom Tisch, mit sich über den Gehsteig, zu seinem Wagen.
Ledergeruch schlug Sara entgegen, als er die Beifahrertür öffnete, umständlich und mühsam, weil sie mit ihrem ganzen Gewicht in seinem Arm hing. Irgendwie gelang es ihm, sie auf dem Sitz zu platzieren; sanft geschah es nicht, es tat weh, wie er mit ihr umging. Trotzdem begrüßte sie den Schmerz, weil er ein weiteres Zeichen dafür war, dass wieder Leben in sie kam.
»Wo … wohin …?«, fragte sie, als er sich hinters Steuer fallen ließ. Acht Kilometer joggen strengte sie nicht so an wie das Hervorpressen dieses einen Wortes.
Sicher würde er sie ins nächste Krankenhaus bringen.
Aber er murmelte bloß etwas von einer Beerdigung.
***
F RIEDHOF L ICHTERFELDE
Die Beerdigung von Katharina Lassing war eine in jeder Hinsicht traurige Angelegenheit: Es war kalt, die Luft nebelfeucht, der Frühling schien mit ihr gestorben zu sein. Und zu behaupten, die Beisetzung fände im engsten Familienkreis statt, hätte die Tatsachen glorifiziert – Theo war alles, was Katharina Lassing an Familie besaß, allenfalls ließ sich Lorenz Hajek noch dazu zählen. Theo hatte ihn am Tag des Todes seiner Mutter telefonisch in Barcelona erreicht, eingetroffen war er bis heute nicht.
Abgesehen von ihm selbst war nicht mehr als eine Hand voll von Theos Bekannten und Kollegen auf den unheimlich verwinkelten, dicht bewachsenen Friedhof gekommen, sowie natürlich sein einziger Freund Yash und, was ihn ein bisschen wunderte, auch Bine.
Eigene Freunde oder auch nur Bekannte hatte seine Mutter nicht gehabt. Zwar fanden sich in der kleinen Trauerschar drei, vier Gesichter, die Theo fremd waren. Es handelte sich wohl um Bewunderer und vielleicht Sammler von Katharinas Werken, mit denen sie zu Lebzeiten jedweden Kontakt gemieden hatte und die nun wenigstens die Gelegenheit nutzen wollte, ihr ein erstes und unwiderruflich letztes Mal ihre Aufwartung zu machen.
Die Worte des Trauerredners, den das Bestattungsinstitut organisiert hatte – Katharina war, so wie ihr Sohn, konfessionslos gewesen –, flossen an Theo vorüber; ohnehin war ihm nicht klar, was dieser Mann über Katharina zu sagen hatte. Theo hatte kaum Auskünfte zu ihrer Person gegeben, und andere, die der Mann im Vorfeld der Beisetzung befragen konnte, gab es nicht. Das war wohl Teil der Profession eines solchen Redners – auch dann etwas sagen zu können, wenn es eigentlich nichts zu sagen gab.
Die Beerdigung seiner Mutter war nicht die erste, an der Theo teilnahm. Vor knapp einem Jahr war ein Kollege an Leukämie
Weitere Kostenlose Bücher