Das Puppenzimmer - Roman
wenig Modemagazine aus dem alten Jahrhundert zu Gesicht bekommen hatte – für einen Teil des Kleides gehalten hatte. In meinen zu schlichten Sachen versuchte ich, mich unsichtbar zu machen, aber die Mühe hätte ich mir auch sparen können – keiner der Diener in ihren dunkelvioletten Livreen, keines der schwarzgekleideten Mädchen würdigte mich auch nur eines Blicks. Was immer sie an natürlicher Neugier besitzen mochten, wurde von Butler und Hausdrache unter Kontrolle gehalten. Erst als Mr. Molyneux, unverändert düster, sich zu seiner Schwester gesellte, brachte mir wieder jemand einen Funken Aufmerksamkeit entgegen.
»Du wirst mit Sally gehen«, sagte er und überließ es mir zu erraten, welches der drei Mädchen damit gemeint war. »Sie wird dir dein Zimmer zeigen und etwas Angemessenes zum Anziehen geben.«
So kam ich also an das weiße Kleid, an meinen neuen Namen, und an mein neues Leben in Hollyhock Hall. Von diesem Tag an sollte nichts mehr so sein wie zuvor – aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es irgendwie schlimmer als in St. Margaret’s werden sollte.
Zweites Kapitel
Mein Zimmer lag unter dem Dach. Ich wusste nicht, ob das ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes, es war schließlich mein erstes Herrenhaus. Ich vermutete zwar, dass dort oben nur die Zimmer des Personals lagen, aber eigentlich konnte es mir egal sein. Es war ein Zimmer! Mein eigenes! Was störte es, dass darin nur ein Bett stand, ein Waschtisch und ein schmaler Wandschrank, und dass man keinen Platz hatte zum Tanzen – es war ein eigenes Zimmer. Und selbst wenn Mäuse unter dem Bett leben sollten, Spinnen in der Ecke und Geister im Schrank, es war mehr, als ich jemals in meinem Leben besessen hatte. Seit ich denken konnte, hatte ich im Schlafsaal von St. Margaret’s gewohnt, und ich fragte mich, ob ich überhaupt würde schlafen können ohne den Atem der anderen Mädchen um mich herum, ohne das Quietschen von 20 eisernen Bettgestellen.
In diesem Moment ließ ich mich davontragen von meiner eigenen Begeisterung. Ich lief zum Fenster und blickte hinaus. Die Scheibe war innen beschlagen und außen staubig, also riss ich das Fenster auf, froh, trotz karger Ernährung doch einiges an Kraft in meinen jungen Armen zu haben, denn der Rahmen war stark verzogen – doch was ich dann sah, machte alles wett. Da draußen lag der Garten. Ich sah Bäume, Blumenbeete, und weiter hinten lag etwas, von dem ich mir von ganzem Herzen wünschte, dass es ein Labyrinth war. Eigentlich sah ich nur eine hohe Hecke, aber jeder wusste, dass Herrenhäuser ein Labyrinth haben mussten, in dessen Zentrum das dunkle Geheimnis versteckt war: das Grab der heimlichen Geliebten, vom Lord gemeuchelt, als sie ein Kind von ihm erwartete, und dann nachts im Labyrinth verscharrt, wo sie bis heute umging …
Ich war nicht so oft in die Leihbücherei gekommen, wie ich es gern gewollt hätte, also musste ich mir die meisten Geschichten aus alten Zeitungen zusammenklauben, wo sie in Fortsetzungen erschienen. So verpasste ich natürlich immer die entscheidenden Stellen, wenn eine Ausgabe schon ins Feuer gewandert war, ehe ich sie mir unter den Nagel reißen konnte, aber ich hatte genug Ideen im Kopf, um mir das Fehlende zusammenzureimen. Im Laufe der Jahre war ich sicher eine kleine Expertin für alle erdenklichen Familiengeheimnisse geworden: vielleicht, weil ich mein eigenes nie hatte ergründen können. Ich rührte lieber in anderer Leute schmutziger Wäsche, als die schreckliche Wahrheit über meine eigene Herkunft zu erfahren, den Grund, warum meine Mutter mich einfach auf einer Türschwelle ausgesetzt hatte.
Aber nun konnte alles anders werden. Nun war Hollyhock meine neue Heimat, und ich liebte es jetzt schon: So verwachsen und verwildert der Garten auch sein mochte, gerade dass er nicht perfekt war, machte ihn schön. Mein ganzes Leben lang war ich geschrubbt und geschniegelt worden – hier fand ich endlich diesen Hauch von Wildheit, nach dem ich mich immer gesehnt hatte. Und was meinen Seiltänzerinnentraum anging: Wenn ich es richtig anstellte und eine Strickleiter an meinem Fenster anbrachte, konnte ich auf das Dach des Anbaus hinausklettern, das einen spitzen Giebel hatte, auf dem man vortrefflich herumbalancieren konnte. Und für schlechtes Wetter hatte ich hier im Haus auch bereits sehr schöne Treppengeländer gesehen – vor allem die Galerie am oberen Ende der Halle war etwas, wogegen St. Margaret’s nicht anstinken konnte.
Ich lehnte
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