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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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gerade so viel, dass sie mit einer Selbstverständlichkeit die Herrschaft über den Raum übernahm, als wäre sie schon immer die alleinige Königin hier gewesen und Rufus nicht mehr als ein treu dienender Sekretär. Nur wer Blanche war und wo sie im Verhältnis zu diesen beiden stand, konnte ich weiterhin nur raten.
    Violet lächelte. »Dann sei bereit, meine liebe Florence. Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Hör gut zu, denn ich werde sie nicht wiederholen; was du jetzt nicht begreifst, das sollst du dein Leben lang nicht verstehen.« Ich nickte. »Früher«, sagte Violet, »in den alten Zeiten, lagen beide Welten, die der Menschen und das Feenreich, so eng zusammen, dass sie sich überlappten. Wir lebten in beiden, und alles gehörte uns. Natürlich gab es immer wieder Menschen, die Jagd auf uns machten, die versuchten, uns zu vertreiben, und die das Land für sich allein beanspruchten. Menschen, die versuchten, uns ihre Werte aufzudrücken, ihre Vorstellungen von dem, was sie gut oder böse nennen.
    Nichts davon interessiert uns. Wir sind, was wir sind, und wir lassen die Menschen sein, was sie sind. Wir mischen uns nicht ein, damals nicht und heute nicht. Es gab und es gibt immer wieder solche, die uns achten, die wissen, was wir dieser Welt geben, und dass sie ohne uns nichts wären. Ohne Feen gäbe es keine Schönheit, keine Träume, keine Perfektion. Doch die Menschen sind dumm, sie vergessen zu schnell das Wesentliche und achten das Belanglose mehr. Gierig sind sie und träge, immer mehr Geld wollen sie anhäufen mit immer weniger Arbeit. Sie erschaffen Maschinen, die das Lebewesen ersetzen und die Natur mit ihrem grauen Rauch verpesten. Die Menschen sterben selbst daran und merken es nicht einmal, aber Feen sind Geschöpfe von Schönheit und Reinheit, und wir können nicht existieren in einer verseuchten Welt.«
    Ich zwinkerte. Natürlich, wenn man nach London kam, lag der dicke Nebel über der Stadt wie eine Käseglocke, und der kam weniger aus den Wolken als aus den Kaminen der Stadt, den Häusern und Fabriken. Aber wenn man einmal auf dem Land war wie hier, wo alles blühte und gedieh und der Himmel blau war … Warum mieden die Feen nicht einfach die Städte und ließen sich im Grünen nieder, wo es viel schöner war als zwischen den geschwärzten Mauern der Städte? »Aber – Sie sind jetzt doch hier«, hörte ich mich sagen, ziemlich lahm.
    »Still«, sagte Violet, »unterbrich mich nicht, oder ich werde für immer schweigen. Wenn du meine Worte nicht begreifst, ist das deine eigene Schuld. Du bist jung, du weißt zu wenig von der Welt, zu wenig von ihrer Geschichte. Vor vielleicht 100, 150 Jahren – Menschenjahren, sollte ich sagen, denn an uns zieht die Zeit vorbei, ohne uns zu berühren, und sie bedeutet uns nichts – nahm eine Entwicklung ihren Lauf, die für uns zu einer Katastrophe wurde.
    Die Menschen begannen, das Land mit Eisen zu überziehen. Sie schmiedeten nicht mehr nur ihre Waffen und Rüstungen aus dem kalten, scheußlichen Metall – sie bauten auch Brücken daraus, die wir nicht überqueren können, sie legten eiserne Bänder von Land’s End bis John O’Groats, dass wir in den kleinen Flecken dazwischen eingesperrt wurden, während sie in ihren schnaufenden eisernen Kutschen umherfuhren; sie holzten die alten Wälder ab, in denen wir Rückzug gesucht hatten, und während sie uns früher nur im Kampf zu töten vermochten, mit Eisenschwertern und Weihwasser, tötete es uns nun schon, uns nur in ihrem Land aufzuhalten: Wie eine Seuche kroch der Ruf des Eisens auch über die Grenzen, die unsere Welten trennten und zugleich verbanden. Das war der Moment der Spaltung, als sich das Feenreich von der Menschenwelt löste, damit das Gift sich nicht weiter verbreiten und unsere Kinder umbringen konnte.
    Seitdem kann keine Fee mehr in ihrem wahren Körper in diesem Land sein. Sie kann die Träume eines Menschen nur noch dann berühren, wenn dieser selbst einen Weg ins Feenreich findet, und bald wird alles, was wir waren und sind, in Vergessenheit geraten sein – der Stoff von Märchen, Liedern und Geschichten aus alten Zeiten, die lange vergangen sind und niemals wiederkommen. Aber wir waren, und wir sind noch immer, und wir werden nicht aufhören zu sein, nur weil die Menschen das Eisen mehr schätzen als ihre eigenen Träume. Hast du verstanden?«
    Ich nickte. Violets Rede hatte mich berührt, nicht als Worte, sondern wegen der Gefühle, die sie transportierten. Es war, als erlebte

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