Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
Vom Netzwerk:
du vor uns fliehen möchtest und uns schlechte Menschen nennst?«
    Ich schluckte. Selbst mit der Tafel und dem ganzen Raum zwischen Rufus und mir musste ich all meinen Mut zusammennehmen, um zu erklären, was ich herausgefunden hatte. »Ich weiß nicht, was Sie sind«, sagte ich endlich, »aber ich weiß, was Sie nicht sind. Lebendige Menschen, nämlich. Ich weiß, dass Blanche die Seele einer Puppe hat und den Körper einer Toten, und ich muss annehmen, Sir, dass dies auch für Sie und Ihre Schwester gilt.«
    »Und weiter?«, fragte Rufus so gelassen, als hätte ich ihn nicht gerade eine wandelnde Leiche genannt. »War das schon alles?«
    Ich nickte und kam mir plötzlich klein und dumm vor. Reichte das etwa noch nicht aus? Es erklärte natürlich, warum sie so wenig aßen, aber nicht, was sie wollten oder weswegen sie hier waren … Natürlich, es ging um die Puppen. Mit den Seelen, die dort heranreiften, konnten sie noch viel mehr Tote zum Leben erwecken. Aber wer steckte hinter dem Plan: die Toten, die wieder leben wollten, oder die Puppen auf der Suche nach einem richtigen Körper? »Mehr weiß ich nicht«, sagte ich verlegen.
    Rufus lächelte, nickte Violet zu, nickte Blanche zu, und alle drei schienen seltsam belustigt über das, was ich herausgefunden hatte. Nicht die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte! Dann sagte er: »Nun gut, da du dir alle irrelevanten Details zusammengereimt hast, wollen wir jetzt deiner Neugier auf die Sprünge helfen und dir sagen, was eigentlich von Interesse ist. Wir sind keine Menschen, damit hast du völlig recht. Aber woher wir unsere Körper haben und mit welchen Seelen wir sie am Leben halten, das ist nebensächlich. Wir sind unsterblich, wir sind älter als England, älter als die Menschheit, und dieses Land war einmal unseres, bis wir von hier vertrieben wurden. Um es kurz zu machen: Wir sind Feen.«
    Er verstummte und sah mich auffordernd an, als ob er eine bestimmte Antwort erwartete, aber alles, was mir einfiel, war, die Stirn zu runzeln und zu wiederholen: »Feen?« Natürlich, ich hätte es mir denken können, seit Blanche von Feenstaub gesprochen hatte, aber ich glaubte zu wissen, wie ich mir eine Fee vorzustellen hatte, und das sicher nicht als wandelnde Leichen. In den alten Geschichten ging es um Wesen, die Kinder stahlen und mitnahmen in ihr unterirdisches Reich, und auch wenn ich das jetzt nicht mehr gern zugeben wollte, gab es doch in meiner Kindheit genug Momente, in denen ich mir gewünscht hatte, statt Miss Mountford hätte mich eine Fee von der Türschwelle aufgesammelt, um mir ein Leben voller Abenteuer zu bieten. Und als Alice starb, versuchte ich, mir vorzustellen, die Feen hätten sie geholt … Wenn es nicht gerade die bösen Unterirdischen waren, lebten Feen in Parks, flatterten zwischen den Blumen umher und tanzten bei Nacht, wenn der Vollmond am Himmel stand. Aber ich kannte nicht viele solcher Geschichten. In St. Margaret’s wurden keine Märchen erzählt, erst recht keine von Feen, und als ich das Lesen für mich entdeckte und die Leihbücherei von Miss Smythe, gab es zu viele Bücher, die mich mehr interessierten, von Mord und Totschlag und verschollenen Erbinnen. All das ging mir durch den Kopf, und das Einzige, was ich sagen konnte, war: »Feen.« Seltsam war nur, dass ich keinen Augenblick daran zweifelte, dass Rufus die Wahrheit sprach.
    »Du wirkst erstaunt«, sagte er, »ganz wie von einem Kind deiner Zeit zu erwarten. Wir wandeln nicht mehr in dieser Welt, unter den Menschen, wir sind verbannt in ein Reich, das nur aus Träumen besteht und das einstürzen kann in jedem Moment, in dem ein Mensch zu träumen aufhört.«
    »Das ist nicht wahr«, unterbrach ihn Violet in einem seltenen Moment des Widerspruchs. »Unser Reich ist schön, schöner, als diese Welt jemals sein kann, es ist ein prachtvolles Königreich, und die Wesen, die es ihre Heimat nennen dürfen, sind die glücklichsten der Welt. Die Träume, die es zusammenhalten, sind unsere eigenen, und dass wir sie mit den Menschen teilen, ist eine Gnade. Sie hätten es verdient, dass wir sie verhungern ließen in ihrer harten und kalten Welt, die so grausam zu uns geworden ist.«
    Rufus senkte den Blick. »Dann sprecht, Hoheit«, sagte er, als wäre er froh, sich nicht länger als Bruder der Lady ausgeben zu müssen. Er stand von seinem Stuhl am Kopf der Tafel auf und trat ein paar Schritte zurück. Violet blieb sitzen, wo sie war, und doch veränderte sich ihre Haltung kaum merkbar,

Weitere Kostenlose Bücher