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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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auf die Zehenspitzen. Dann berührten meine Finger ihre Füße, griffen sie bei den Knöcheln …
    Ich biss die Zähne zusammen. Langsam ging ich wieder auf die Fußsohlen herab und trat rückwärts zum Sofa, und all die Zeit über hielt ich die Puppe in den Händen, packte sie so fest, dass meine Knöchel weiß wurden, und ließ nicht los, auch wenn ich meinen ganzen Willen dafür zusammennehmen musste. Aber so war es nicht richtig. Ich musste sie halten wie eine echte Puppe, nicht wie ein Teetablett. Mein Herz hämmerte, als ich sie hochhob, und ohne ihr noch einmal ins Gesicht zu blicken, nahm ich sie in die Arme und drückte sie an mich. Wut. Hilflosigkeit. Schmerzen. Angst. Verlassenheit. Alles Schlechte der Welt, alles, was das Leben furchtbar machte, floss durch mich hindurch. Was ich zuvor gefühlt hatte, als ich diese Puppen nur flüchtig berührt oder kurz gehalten hatte, war nur ein kläglicher Vorgeschmack gewesen.
    Ich fühlte mich aufschluchzen, nur um dann daran zu ersticken, weil ich keinen Ton herausbrachte. Es gab keine Farben mehr. Die Welt war ein entsetzlicher, kalter Ort, nicht an sich, sondern wegen der Wesen, die dort lebten. Bösartig. Grausam. Schwarz. Mein Kopf dröhnte. Meine Augen brannten. Und die Puppe in meinen Armen schien zu triumphieren, zu sagen: » Siehst du, ich habe es dir doch gesagt! «
    Ich schloss die Augen und versuchte, an alle schönen Dinge auf der Welt zu denken: Schmetterlinge und Himbeeren und Osterglocken und warme Socken … Ich war größer als diese Puppe, stärker, erfahrener, ich durfte mir nicht von ihr einreden lassen, wie ich die Welt zu sehen hatte. Ich wusste es besser. Ich wusste, dass auf jedes Schrecknis etwas Gutes folgte, und ich würde mich nicht kleinkriegen lassen. »Zuckerstangen«, flüsterte ich heiser und war bei jedem Wort froh, dass ich es überhaupt über die Lippen brachte. »Nachtigallen. Pudding.«
    Es tat gut. Vor meinem inneren Auge sah ich wieder Farben, die sich in das Grau mischten. Aber wovon redete ich da? Nur von Dingen! Waren es wirklich Dinge, die aus dieser Welt einen schönen Ort machten? »Liebe«, sagte ich und ließ das Wort in der Luft hängen wie eine schwebende Rosenblüte. »Freundschaft. Glück.« Langsam wurde mein Atem wieder ruhig, ließen die Schmerzen in meinem Herz nach, ebenso wie das bleierne Ziehen in meinen Armen.
    Wie eine Mutter, deren Kind nicht schlafen will – oder wie wir es in St. Margaret’s selbst oft genug mit den ganz Kleinen gemacht hatten –, ging ich im Zimmer auf und ab und summte leise vor mich hin und wiegte die Puppe in meinen Armen. »Alles ist gut«, flüsterte ich, diesmal nicht für mich, aber für die Seele in meinen Armen. »Du bist nicht allein. Ich bin bei dir. Ich verlasse dich nicht. Die Welt ist nicht so schrecklich, wie du glaubst.«
    Vielleicht hatte ich eine Chance, sie zu heilen. Ich wusste nicht, was dieses Wesen im Leben durchgemacht hatte, aber ich begriff, dass es entsetzlich gewesen sein musste, schlimmer, als ich es mir jemals ausmalen konnte. Niemand war jemals gut zu ihm gewesen. Die Feen hatten es aufgegeben als eine böse, schwarze Seele, die sie nicht brauchen konnten außer für ihre Seide, aber was verstanden sie schon von Seelen? Sie hatten keine, und sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, eine zu haben. Ich glaubte, dass kein Mensch böse geboren wurde. Man konnte zu etwas Bösem werden, wenn das Leben einen dazu machte, aber ich war überzeugt, dass sich das auch umkehren ließ. Die Seelen waren nicht anders als Kinder – aus ihnen konnte noch alles werden. Man musste nur nett zu ihnen sein.
    Ich sang für die Puppe, und ich sprach mit der Puppe. Ich erzählte ihr vom Zirkus, von den Seiltänzerinnen, den riesigen Elefanten, und dass ich eine Fee war, die sich von nun an um sie kümmern würde. Sie nicht allein lassen. Für sie da sein. Aber nichts davon änderte etwas daran, wie sich die Puppe anfühlte. Wenn ich nicht ständig dagegen ankämpfte, überkam mich wieder all die Schlechtigkeit, dieser unbändige Hass – nicht nur auf alle, die ihr etwas angetan hatten, sondern Hass auf alles, das war; auf alles, das lebte. Wie sollte ich jemandem klarmachen, was Glück war, wenn der sich jahre-, vielleicht jahrzehntelang nur im eigenen Elend gesuhlt hatte?
    »Du musst daran glauben«, flüsterte ich. »Bitte. Tu es nicht für mich. Tu es für dich selbst.« Ich konnte ihr nicht sagen, dass sie, wenn sie es nicht tat, getötet würde – nichts war besser

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