Das Puppenzimmer - Roman
Kindereien«, sagte Rufus, »und nehmt euer Frühstück ein.«
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und stürzte mich auf meinen Tee, damit er mir half, dieses grässliche Gefühl im Mund wieder loszuwerden. Ich wollte mir eigentlich keine Gedanken darüber machen müssen, aber ich hätte schwören können, dass ich Blanches Zunge an meinen Lippen gefühlt hatte – da machte es wirklich mehr Spaß, wenn einem der Hofhund das Gesicht abschleckte. Wäre sie nicht tot gewesen … Aber sosehr ich auch versuchte, hinter meiner Teetasse zu verschwinden, kam ich doch nicht um Violets Aufmerksamkeit herum.
»Florence, Liebes«, flötete sie. »Rufus sagte mir, dass du bereit bist, die Traumseide zu gewinnen. Ist das wahr?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mir erklärt, dass ich diese Aufgabe erledigen soll«, sagte ich. »Aber nein, bereit dafür bin ich noch nicht.« Dann kam mir der rettende Gedanke. Feen waren unsterblich, Zeit bedeutete ihnen nichts – das musste sich doch ausnutzen lassen! »Ich denke, in einigen Jahren werde ich das zu Ihrer Zufriedenheit erledigen können«, sagte ich und machte ein unschuldiges Gesicht. »Noch bin ich so wenig daran gewöhnt, eine Fee zu sein, dass ich mit meinen groben Menschenhänden bestimmt die kostbare Seide ruinieren würde, aber in 10, 20 Jahren …«
Rufus lachte mich aus. »Du musst nicht glauben, dass wir dich nicht durchschauen, Mädchen«, sagte er. »Wenn wir noch in Anderland wären, hätten wir dafür vielleicht sogar Zeit. Aber hier? Die Menschenwelt verändert sich in einer Geschwindigkeit, dass noch nicht einmal ihre eigenen Kinder dabei mithalten können. In 10 Jahren werden sie vielleicht sogar ihre Häuser aus Eisen bauen. Nein, wir brauchen die Seide jetzt. Und du wirst dich nicht ungeschickt anstellen. Du hast Feenfinger. Sie wissen, was zu tun ist.«
»Aber nicht jetzt!«, versuchte ich, mich ein letztes Mal herauszureden. »Ich bin doch noch nicht einmal ganz erwacht!« Weiter kam ich nicht. Unter Rufus’ Blick wurde ich stiller und stiller. Hatte ich eine Wahl? Früher oder später musste ich es tun, und je länger ich mich jetzt sträubte, desto schwerer würde es mir fallen, wenn ich wochen- oder monatelang damit verbringen konnte, Angst anzuhäufen. »Also gut«, murmelte ich endlich. »Ich will es versuchen.« Ich bereute meine Worte schon im nächsten Augenblick. Aber da war es zu spät.
»Ob du willst oder nicht, ist mir egal«, sagte Rufus. »Du wirst es tun, das ist die Hauptsache. Wenn wir mit dem Frühstück fertig sind, hole die erste Puppe. Ich zeige dir dann alles Weitere.«
Und das war es dann. Nun gab es keinen Weg zurück.
Wieder einmal musste ich Blanche abwimmeln, als ich in das Puppenzimmer ging – und ich ahnte, eines Tages würde ich sie doch mitnehmen müssen, ihrer Neugier war nicht anders beizukommen. Verstand sie nicht, dass sie als Wahre Fee die Puppen nicht anfassen durfte? Ich wusste nicht, ob damit alle Puppen gemeint waren oder nur die schlechten – nein, schlecht war das falsche Wort: Nach dieser Nacht konnte ich sie nicht mehr für schlecht oder böse halten, nur verzweifelt … Aber ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Blanche musste bei Violet im Salon warten; sie schien das als Strafe für den Kuss zu halten – vielleicht hatte sie schon längst wieder vergessen, dass ihr Rufus das Betreten des Zimmers grundsätzlich verboten hatte. Trotzdem kam sie an diesem Tag in den Genuss, zumindest einmal eine der Puppen zu sehen. Als ich mit dem kleinen Mädchen in den Salon zurückkehrte, war Blanche noch immer da. Unsere Augen begegneten sich, und ihr Blick war bestürzt – sie hatte verstanden.
Obwohl ich die Puppe fast die ganze Nacht lang im Arm gehalten hatte und mich an dieses Gefühl von Hass und Schmerz hätte gewöhnen müssen, war es immer noch so schlimm wie im ersten Augenblick. Auch als ich ihr sagte, dass ihr Wunsch in Erfüllung gehen sollte, dass sie es bald überstanden hatte, brachte das keine Erleichterung – nicht einmal mehr darauf freuen konnte sie sich noch. Es war erst vorüber, wenn es vorbei war. Sollte ich stolz darauf sein, dass ich noch nicht abgestumpft war? In diesem Moment hätte ich Stumpfheit begrüßt. Keine Gefühle mehr teilen zu müssen, keine Angst mehr zu haben vor der Aufgabe, die auf mich wartete. Ausgerechnet jetzt an etwas Schönes denken zu müssen, um gegen den Einfluss der Puppe anzukämpfen, war fast schwerer, als den Kummer selbst zu ertragen.
»Das ist
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