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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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Körper zu fahren, wird die Seide zerstört und unbrauchbar. Das müssen wir hinnehmen, denn wir brauchen diese Seelen noch dringender als die Seide. Nur die Seelen, die wir nicht verwenden können, bleiben übrig, um die Seide zu gewinnen. Aber das bedeutet, dass wir sie töten müssen.«
    Ich schluckte. Kam das überraschend? Nein. Ich hatte im Grunde meines Herzens geahnt, dass es darauf hinauslaufen musste. Sonst hätte Rufus sich nicht die Mühe gemacht, so viel Verständnis in mir zu wecken. Er hätte lediglich gesagt: » Geh hin, mach das. « Fertig.
    Dennoch, als er es dann aussprach, kroch mir ein kalter Schauder in die Glieder, und es war doch ein gutes Gefühl, denn es zeigte mir, dass – auch wenn ich zehnmal eine Fee war – ich immer noch wusste, was ein Leben wert ist, und auch, dass ich nicht einfach so eines nehmen konnte.
    »Ich weiß«, sagte Rufus sanft. »Du willst das nicht hören. Nimm Platz. Setz dich.« Er nahm mich bei der Schulter – das erste Mal überhaupt, dass er mich berührte – und führte mich zum Sofa. Ich setzte mich zwischen die letzten Puppen, die noch da waren, und war froh darum, weil mir die Knie zitterten. Rufus setzte sich neben mich, vorsichtig, ohne an eine Puppe zu stoßen, und nahm meine Hand. Es war nicht die tröstliche Geste, als die es vielleicht gedacht war, dafür war er immer noch zu kalt und zu tot, aber allein, dass er es versuchte, war viel wert.
    »Ich sage nicht, dass du einen Menschen umbringen sollst. Diese Seelen sind aus Körpern entkommen, die ohnehin nicht überlebt hätten. Sie sind geflohen, bevor sie dieses Schicksal ereilen konnte. Es ist ein Glück für sie, dass wir einigen von ihnen die Chance geben können, noch einmal zu leben, aber für die verdorbenen Seelen geht das nicht; sie wollen es noch nicht einmal, alles Lebendige ist ihnen verhasst. Wir dürfen sie nicht schlüpfen lassen. Sie zu töten, um ihre Seide zu gewinnen, ist ein Akt der Gnade. Verstehst du das?«
    Ich nickte und spürte dabei, wie lautlose Tränen aus meinen Augen rannen, über meine Wangen, um von meinem Kinn auf mein Kleid zu tropfen. Ich war ganz still, ich schluchzte nicht, aber ich weinte um die Seelen, und um mich. »Das kann ich nicht«, flüsterte ich. »Bitte, das kann ich nicht. Können Sie nicht jemand anderen finden, der das an meiner Stelle tut? Oder es selbst machen?«
    Rufus schüttelte den Kopf. Seine Stimme blieb sanft und freundlich. »Es ist nicht so, dass wir dich die schlechte Arbeit machen lassen wollen, weil wir uns dafür zu fein sind«, sagte er. »Und wenn ich es könnte, würde ich die Seide mit meinen eigenen Händen von den Kokons reißen, um sie meinem Volk zur Verfügung zu stellen. Ich weiß besser als du, wo ich hingehöre, und meine Loyalität ist nicht mit den Menschen. Aber ich – und das gilt auch für alle anderen Wahren Feen in dieser Welt – kann die Kokons mit den verdorbenen Seelen nicht berühren. Wir dürfen es nicht. Es ist zu gefährlich für uns. Das ist etwas, das nur ein Wechselbalg tun kann, so wie du. Dafür haben wir dich ausgewählt. Du bist kein kleines Kind mehr, und du sollst wissen, wo du hingehörst. Wenn man heranreift, muss man manchmal eine harte Entscheidung treffen und etwas tun, das einem im Herzen widerstrebt, aber du bist alt genug, um zu verstehen, dass du keine andere Wahl hast. Wir werden dir zeigen, wie du es anstellst, dass die Seelen schmerzlos erlöst werden. Aber wenn es darauf ankommt, musst du deine Bedenken hinter dir lassen. Es sind nur Menschen. Du bist eine Fee.«
    Ich hätte ihn am liebsten angeschrien, dass er sich seine Traumseide sonst wohin stecken sollte, dass er mich nicht zu seinem Werkzeug machen konnte, zu einer Mörderin, dass er nicht von Erlösung faseln sollte, wenn es in Wirklichkeit darum ging, jemanden zu ermorden, dass er sich eine andere Dumme suchen sollte. Doch ich sagte nichts. Ich saß nur da und weinte stumm, und irgendwann stand Rufus auf und ging. Jetzt gab es nur noch mich – und die Puppen.

Fünfzehntes Kapitel
    Ich verbrachte die Nacht mit den Puppen. Ihre Anwesenheit beunruhigte mich zwar mehr, als dass sie mich getröstet hätte, aber ich fühlte mich, als dürfte ich sie nicht mehr allein lassen. Alles, was ich in den letzten Tagen erfahren hatte, war am Ende noch leicht zu verarbeiten gewesen: Gut, dann waren die Molyneux’ eben Feen, und ich von mir aus auch. Dann beschaffte sich Rufus eben tote Körper, dann war Violet eben eine Königin, dann waren

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