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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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Aber wie du willst. Du musst nicht glauben, dass du einzigartig bist. Wenn man an der richtigen Stelle sucht, findet man Dutzende von deiner Sorte. Ich musste mir nur eine aussuchen.« Ich schluckte. Das saß wie eine Ohrfeige. Wenn das jetzt hieß, dass ich nicht die einzige verlorene Fee in St. Margaret’s war, sondern vielleicht nur eine von 60 – aber das konnte ich nicht glauben. Ich wusste, dass ich anders war als die anderen Waisenmädchen. Die Einzige, die jemals so gewesen war wie ich, war Alice, und sonst niemand …
    Um es noch schlimmer zu machen, redete Rufus weiter: »Menschen fühlen instinktiv – so wie sie alles instinktiv tun, wie ein Tier, das keinen Verstand hat –, dass in Kindern wie dir etwas steckt, das anders ist als sie. Und was anders ist, ist fremd, und was fremd ist, das wollen sie nicht haben. Du bist erst jetzt als Fee erwacht, aber ein Wechselbalg warst du vom Tag deiner Geburt an. Du kannst von Glück sagen, dass du zu denjenigen gehörst, die auf einer Türschwelle landeten, und nicht am Grund eines Teiches.« Er nickte leicht. »Aber willst du nicht hören, welche großen Taten wir noch von dir erwarten?«
    Ich blickte ihn nicht an. Stattdessen wanderte ich an den Reihen meiner Puppen entlang. In diesem Moment wollte ich sie nur als Puppen sehen, und ich war froh, dass ich gelernt hatte, zu kontrollieren, was ich sah. Sie schauten mich unschuldig und erwartungsvoll an, so als könnten sie nicht erwarten, was ich noch alles mit ihnen anstellen sollte. Dann sagte ich leise: »Es geht um die Puppen da oben, nicht wahr?«
    »Natürlich«, sagte Rufus. »Wir wollen doch nichts vergeuden, nicht wahr? Ihre Seelen können wir nicht verwenden, sie sind von schwarzem Hass zerfressen, aber wir können immer noch ihre Seide gebrauchen.«
    »Seide?«, wiederholte ich verwirrt.
    »Es sind Kokons«, antwortete Rufus. »Sie sehen nicht nur aus, als wären sie aus Seide gesponnen, sie sind es. Es ist eine Seide, die gewöhnliche Menschen nicht sehen können oder anfassen, aber für uns ist es der Stoff, aus dem man Träume macht. Im wahrsten Sinne des Wortes. Jeder, der träumt, spinnt sich ein Gebilde aus Traumseide. Aber ein Mensch legt sich schlafen, und sechs Stunden später wacht er wieder auf – diese Zeit reicht nicht aus, um mehr als ein paar vereinzelte Fäden zustande zu bringen, und die bekommen wir auch nur, wenn wir schnell genug zur Stelle sind und den Traum zu fassen bekommen, ehe er vorüber ist. Diese verpuppten Seelen hier träumen hingegen jahrelang. Sie tun nichts anderes. Es sind vielleicht keine schönen Träume, aber Traum ist Traum. Wir wären dumm, diese Seide nicht für uns zu nutzen. Es ist ein kostbarer Stoff, seltener noch als Glimmer – den du als Feenstaub kennst. Wir brauchen diese Fäden, um die Verbindungen zwischen unseren Welten neu zu weben, damit das Feenreich und die Menschenwelt nicht noch weiter auseinanderdriften. Wenn du es genau wissen willst, hängt unser Fortbestehen davon ab – und deines auch, wenn du nicht auf Dauer das erdrückende Leben eines Menschen führen willst.«
    Ich hörte ihm stumm zu, wagte kaum, auch nur zu atmen, aus Angst, ich könnte ihn unterbrechen und zum Verstummen bringen. Rufus war immer kalt, immer unnahbar, ein bildschöner Eisblock auf Beinen, aber in diesem Moment, als er von der Traumseide sprach, war er ein ganz anderer – einer, der Gefühle hat, der weiß, wie es ist, zu träumen, der vielleicht sogar weiß, was Liebe ist, und Leid. Es klang in seiner Stimme mit, während er sprach, und es schimmerte in seinen Augen. In diesem kostbaren Moment waren wir beide dasselbe, beide Feen, beide unserer Ohnmacht bewusst … Da standen wir, höhere Wesen, unsterblich sogar, mit Zauberkraft ausgestattet und einem Menschen so weit überlegen wie die Sonne einem fernen Stern, und doch waren wir ohne sie nichts, hilflos angewiesen auf ihre Träume, die uns am Leben hielten. Ich weiß nicht, ob ich das ohne Alans Worte begriffen hätte, aber obwohl ich ihm dankbar war, stand ich in diesem Augenblick nicht auf Seiten der Menschen; meine Seite war die von Rufus und Violet und Blanche und allen anderen Feen. Das in mir, was Fee war, erinnerte sich – gerade so, dass ich es nicht greifen konnte, aber genug, um es zu fühlen.
    »Ich erkläre es dir deswegen so ausführlich«, sagte Rufus, »damit du begreifst, wie wichtig die Traumseide für uns ist. Wenn eine reine Seele herangereift ist und aus ihrem Kokon schlüpft, um in einen

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