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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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Inneres zuließ. Es hatte seine winzigen Hände um Blanches Hals gelegt und schien sie zu würgen, aber dass so viel Kraft in dieser körperlosen Gestalt stecken sollte, konnte ich mir kaum vorstellen. Sie war so winzig, so kleine Finger, so zarte Händchen …
    Aber Blanche erstickte. Aus ihrem Mund und ihrer Nase quoll etwas, das wie Nebel aussah, weißer Nebel, und doch wusste ich sofort, dass es ihre Seele war. Die schwarzen Linien in Blanches Gesicht, erst nur fein wie mit einer Federspitze gezogen, wurden breiter, als wolle ihr Kopf auseinanderspringen, und ihre Hände, immer noch um die Puppe gekrallt, sanfte Hände, die niemals Arbeit gekannt hatten oder Schmerzen, wurden grau und welk wie alte Zweige. Die perfekt gepflegten Nägel verwandelten sich in Klauen, und schwarze Adern zogen sich von den Handrücken aus die Arme hoch. Es war ein schrecklicher Anblick. Aber nicht so schrecklich wie der, als die schwarze Seele die weiße verschlang.
    Sie öffnete nicht einfach ihren Mund, sie riss ihn auf, dass er bis zu den Ohren zu reichen schien, dann verschwand der weiße Nebel ganz in der schwarzen Wolke, angesaugt von einem Strudel, dem niemand entkommen konnte. War die schwarze Gestalt stark, entschlossen und unbesiegbar, so war die weiße schwach und zaghaft, wehrte sich nicht, ließ es einfach mit sich geschehen … und dann war sie verschwunden. Die schwarze Seele blieb zurück, aber nur für einen Augenblick. Dann fuhr sie durch den halb geöffneten Mund in Blanche hinein.
    Blanches Augen wurden schwarz, stumpf und glanzlos wie zwei Stück Kohle. Die Puppe entglitt ihren eingefrorenen Händen. Langsam kippte Blanche vorwärts vom Sofa, ohne sich zu rühren, und noch bevor sie sanft auf dem Teppich aufschlug, wusste ich, dass sie tot war.
    Ich weiß nicht mehr, was ich tat. Ich glaube, ich setzte mich einfach neben Blanche auf den Boden und weinte. Dass ich ihre Hand genommen habe, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, und doch hielt ich sie plötzlich fest. Blanches Haut war schon immer kalt wie der Tod gewesen, daran hätte ich eigentlich gewöhnt sein sollen, aber in diesem Moment war ihre Hand das Schrecklichste, was ich jemals hatte anfassen müssen – nicht wegen ihrer Kälte, und auch nicht wegen der schwarzen Adern, die sich im Tod über ihren ganzen Körper zogen, als wäre sie selbst aus gesprungenem Porzellan, sondern weil sie so schlaff und leblos war, als gäbe es keinen einzigen Muskel mehr darin, der meinen Griff erwidern konnte. Und doch hielt ich ihre Hand fest, als säße ich lediglich am Bett einer kranken Freundin.
    Selbst wenn ich gewollt hätte, beten konnte ich nicht mehr, und so saß ich einfach nur da und trauerte. Ich hatte noch niemals wirklich um einen anderen getrauert. Nicht um meine Eltern, die ich nie gekannt hatte; noch nicht einmal um die Mädchen, die in meiner Zeit in St. Margaret’s gestorben waren, ob an der Schwindsucht, am Scharlach oder auch nur am Fieber. Es starb eben immer wieder jemand, und dann kam jemand Neues nach; es war nicht so anders, als wenn sie adoptiert wurden, und am allerwenigsten hatte ich um Alice getrauert, die aus meinem Leben verschwunden war, als hätte es sie nie gegeben, und mich lieber in Träume geflüchtet, in denen wir beide noch zusammen waren … Aber jetzt trauerte ich um Blanche, die eine Fee gewesen war und doch niemandem jemals etwas Böses gewollt hatte. Ich wünschte mir mit allem, was ich hatte, dass nur ihr Körper gestorben war, zum zweiten Mal – dass Blanche wieder im Feenreich war, und glücklich. Glauben konnte ich es nicht.
    Dann berührte mich etwas von hinten an der Schulter. Ich schoss hoch, mein Herz hämmerte vor Aufregung, und der kalte Schweiß der Panik brach mir aus. Ich fuhr herum, aber niemand war da –
    »Florence!«, rief Alan. »Ganz ruhig, ich bin es nur!«
    Mir wurden die Knie weich; keuchend ging ich zu Boden. »Bitte …«, wimmerte ich, »tu das nie, nie wieder!« Ich wusste nicht einmal, dass er mit mir ins Haus gekommen war, geschweige denn ins Zimmer. Auf der einen Seite war ich froh um seine Nähe, aber dafür hatte er auch mit ansehen müssen, dass ich keinen Finger krummgemacht hatte, um Blanche zu helfen – und auch selbst nichts getan.
    »Warte«, sagte Alan leise, »ich mache mich wieder sichtbar.« Diesmal war ich vorbereitet auf den Anblick von Alan, der plötzlich aus der Luft auftauchte und nur noch einen Schuh anhatte. Er nahm mich in den Arm und drückte mich an sich, und das Leben

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