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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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wollte oder nicht, das Erbe dieser Frau antreten, und ich durfte auf keinen Fall so enden wie sie. Aber mein Verdacht, dass sie die Mrs. Harding aus meinen Träumen gewesen war, sollte sich nicht bestätigen. Das große Porträt, das mir im Traum erschienen war, existierte nicht, jedenfalls nicht im verborgenen Flur. Dort gab es wirklich nur ausgeblichene Photographien, aber immerhin: Auf einer davon konnte ich mit etwas Mühe eine Frau erkennen, die zu dem Gesicht aus dem Traum passte.
    Es war eine alte Aufnahme von Hollyhock – ich wusste nicht, wie alt sie tatsächlich war, aber wenn Miss Lavender die letzten Jahre hier fast allein gelebt hatte, musste diese Abbildung, bei dem sich das gesamte Personal vor dem Haus aufgestellt hatte, schon eine ganze Weile auf dem Buckel haben. Das waren genug Leute, um das Speisezimmer unten im Keller zu füllen, und keins der Gesichter gehörte einem Mitglied des heutigen Personals. Hollyhock hingegen sah so aus, wie ich es kannte, und anhand der Kleider konnte ich das Alter auch nicht abschätzen: Die Damenmode mochte sich stark geändert haben während der letzten Jahrzehnte, aber die Dienerschaft trug vielleicht schon zu biblischen Zeiten die gleichen Sachen, schlicht, ordentlich, praktisch, und das bevorzugt in gedeckten Farben.
    Inmitten dieser Personen sah ich meine Mrs. Harding, oder zumindest eine Frau, die ihr hinreichend ähnlich sah, sofern man das bei der Größe der Figuren und den ausgeblichenen Farben sagen konnte. Es war mehr etwas in ihrem Blick, das mir so vertraut erschien, diese Härte in ihren starren, fast schwarzen Augen. An Zufälle glaubte ich nicht mehr, seit die Feen in mein Leben getreten waren.
    Ich konnte das Bild nicht gesehen haben, bevor ich mit dem Träumen begann, aber ich ahnte ja schon lange, dass es sich bei dem, was ich erlebt hatte, nicht um die üblichen Nachtgespinste handelte. Die Frau im Bild, gekleidet in förmliches Schwarz, stand am Rand neben dem weiblichen Personal, und ich nahm an, dass es eine Vorgängerin von Mrs. Arden sein musste, oder auch eine Zofe.
    Ich stellte mir vor, dass sie identisch war mit der alten Dienerin, die bis zum Ende bei Miss Lavender ausgeharrt hatte, steinalt und verhärmt – das würde zu den Geschichten passen, die ich gehört hatte. Vielleicht hatte sich Miss Lavender beim Zusammentragen der Seelen nicht die Finger schmutzig machen wollen. Aber ob das Photo vor oder nach der Geschichte mit Miss Marmon aufgenommen worden war, und was genau damals geschehen war, und was mit Miss Lavender …
    Vielleicht wusste sie nicht, was ihre Untergebene mit den Kindern anstellte, bevor sich deren Seelen verpuppten in der Hoffnung auf ein besseres Leben oder auch nur, um den Qualen zu entkommen. Selbst ich mit all den Träumen, die mir von den Feen geschickt wurden oder von den Geistern dieses Hauses oder sogar von den Seelen selbst, konnte mir nicht alles zusammenreimen, was sich damals ereignet haben musste, und ehrlich gesagt, ich war froh darüber.
    Rufus und Violet schien es egal zu sein, was Miss Lavender und ihre Dienerin getan hatten und wie die Seelen in Feenhand gekommen waren, aber sie ahnten, dass es sich noch rächen würde, mehr noch, dass dies schon begonnen hatte. Wie viele Seelen würden noch schwarz und vergiftet heranreifen? Und wie lange sollte das dauern? Ich wusste nicht, ob alle Seelen gleich alt waren und nur unterschiedlich lang brauchten, um zu schlüpfen, oder ob sie über Jahrzehnte zusammengetragen worden waren – beides war eine entsetzliche Vorstellung: sowohl, dass eine Frau in so kurzer Zeit so viele junge Leben zerstört haben sollte, als auch, dass eine Frau, in deren Obhut die Kinder starben wie die Fliegen oder gequält wurden, bis sie ihre Seelen freiwillig ausspien, so lange ungestört ihren Geschäften nachgehen konnte. Was war mit den Müttern, die entdecken mussten, dass die Kinder, für deren vermeintlich liebevolle Pflege sie viel Geld bezahlt hatten, in Wirklichkeit nicht mehr am Leben waren?
    Ich träumte nie wieder von Mrs. Harding und Miss Marmon; die Geschichte bedurfte keiner Fortsetzung mehr, nachdem ich einmal die Zusammenhänge erkannt hatte. Trotzdem fragte ich mich, wie es weiterging: War die arme Frau nicht zur Polizei gegangen? Oder war die Schande, dieses Kind zur Unzeit geboren zu haben, so groß, dass sie selbst dann lieber schwieg, als es ein Unrecht zu beenden galt? Hätte eine einzige mutige Frau dem Treiben Einhalt gebieten können? Oder wäre ihre

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