Das Puppenzimmer - Roman
ich hatte niemanden, mit dem ich diese Angst teilen konnte. Nicht Rufus und Violet, die sich nicht darum scherten, was ein Mensch dachte oder fühlte, und nicht Alan, der alles verachtete, was Fee war. Mit Lucy konnte ich gar nicht mehr reden … In diesem Augenblick hätte ich Blanche gebraucht, keine Fee hatte menschliche Gefühle besser verstanden als sie, aber Blanche war tot.
Es gab nicht einmal ein Grab, um ihrer zu gedenken und stille Zwiesprache mit ihr zu halten – ihr Körper war aus dem Puppenzimmer verschwunden, ich wusste nicht, wie oder durch wessen Hände, und ich fragte auch nicht danach. Vielleicht war es der Kutscher, der Rufus half, aus London Leichen herbeizuschaffen und auf Eis zu legen, und ebenso gut mochte er nun geholfen haben, Blanches tote Hülle zu beseitigen, vielleicht auch der Butler, vielleicht beide. Es war Rufus’ Sache. Ich hoffte, dass sie Blanche einen würdigen Ruheplatz ausgesucht hatten – irgendwo musste ja auch die alte Miss Lavender begraben sein.
Niemand sprach mehr von Blanche. Ich kannte das von Mädchen, die ins Waisenhaus kamen am Tag, nachdem sie ihre Eltern verloren hatten: Sie bewältigten die Trauer, indem sie kein Wort über das Geschehene verloren, das ohnehin nicht mehr umkehrbar war. Und denjenigen, die immerzu weinten: » Meine Eltern hier, meine Eltern da « , denen wurde das von den Mädchen, die schon länger da waren, ganz schnell ausgetrieben. Wir, die wir keine Eltern hatten, wollten auch nichts über die Eltern anderer Kinder hören, vor allem nicht, wenn die sowieso tot waren. Jetzt wusste ich es besser, als nach Blanche zu fragen. In diesem Moment waren die Seelen, die noch lebten, wichtiger als alles andere.
Alan konnte mich nicht umstimmen, und irgendwann akzeptierte er das auch. Er war nicht glücklich, natürlich, alles andere hätte ich ihm auch wirklich übelgenommen – aber ich rang ihm ein Versprechen ab. »Wenn ich das tue«, sagte ich, »wenn ich diesen Schritt gehe, dann will ich, dass du dabei bist. Du, und nicht die Feen, weil du mein Freund bist. Ich will mich von dir verabschieden können, und ich will dich dabeihaben, weil …«, ich schluckte, es war schwer, das zuzugeben, »weil ich sonst Angst habe, ohne dich.«
Alan zögerte. »Ich …«, sagte er, die Stimme belegt. »Ich fühle mich geehrt, dass du dieses Vertrauen in mich hast. Aber fürchtest du nicht, dass ich im letzten Moment versuchen könnte, dich zurückzuhalten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich denke, letzten Endes respektierst du meine Entscheidung. Ich will dich dabeihaben und keine Feen, damit ich mir sicher sein kann, dass es wirklich mein eigener Wille ist. Rufus würde mir vielleicht doch noch alles einflößen, wenn es ihm nicht schnell genug geht, und Violet würde mich bezaubern, um meine letzten Zweifel auszumerzen. Du wirst nichts davon tun. Gerade weil du mich eher davon abhalten würdest, als es mir aufzuzwingen, will ich dich dabeihaben, dich und keinen anderen.«
Das Letzte war gelogen. Ich hätte auch Blanche dabeihaben wollen oder Lucy, aber die eine war tot und die andere nicht mehr sie selbst, und auch wenn ich wusste, dass meine erste Tat als Fee es sein würde, den Beherrschungszauber von Lucy zu nehmen, ertrug ich es doch nicht, sie vorher zu sehen. Ich hatte vor, eine gute Fee zu werden, die keinem Menschen schadete – aber lag das wirklich in meiner Hand? Ich hatte gesehen, wozu meine Feenseite fähig war …
»Gib mir einfach Bescheid, wenn du so weit bist«, sagte Alan und drückte meine Hand. »Ich bleibe bei dir bis zum Ende, egal was auch passiert.« Und in diesem Moment begriff ich, dass nicht ich es war, die ein Opfer brachte. Es war Alan.
Vielleicht glaubte Rufus tatsächlich, dass ich die Wochen, die ich mir als Bedenkzeit ausbedungen hatte, in meinem Zimmer damit verbrachte, ein Tagebuch zu führen. Das Puppenzimmer betrat ich nach Blanches Tod nicht mehr, und ich hoffte, dass auch Rufus oder Violet keinen Fuß hineinsetzten. Ich wollte den verpuppten Seelen erst wieder begegnen, wenn ich eine Fee war, wenn ich das für sie tun konnte, was ich mir mehr als alles wünschte … sie zu heilen. Es war ein Wagnis, das wusste ich. Ebenso gut konnte es sein, dass ich am Ende eine Fee war und den Seelen trotzdem nicht helfen konnte. Aber das war ein Risiko, das ich eingehen musste. Solange ich als Mensch in Hollyhock festsaß, konnte ich gar nichts für sie tun. Wenn ich eine Fee wurde, war die Macht der Molyneux’ über mich
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