Das Puppenzimmer - Roman
jedenfalls durfte dieses Kleid ganz sicher nicht zu Gesicht bekommen. »Und überhaupt, deine Kleider sind viel schöner.«
»Aber sie sind nicht weiß«, sagte Blanche, als ob das die Schuld der Kleider wäre. »Du trägst Weiß und ich nicht, das ist doch unsinnig! Ich müsste Weiß tragen, nicht du – und weißt du auch, warum?«
Ich schüttelte den Kopf. »Weil du blond bist?«, fragte ich. »Und wegen der Farbe der Unschuld?«
Doch damit amüsierte ich Blanche nur noch mehr. »Es ist mein Name, Dummerchen«, sagte sie. »Meine Tante sagte schon, dass du von Namen so gar nichts verstehst. Blanche bedeutet weiß auf Französisch. Aber du kannst kein Französisch, oder?«
»Noch nicht«, sagte ich und ärgerte mich. Das war mein wunder Punkt. Ich hätte sehr gern Französisch gekonnt, oder zumindest gewusst, was mein eigener Name bedeuten sollte. Irgendetwas mit Blumen? »Aber ich will es lernen.«
»Oh, ich kann es dir beibringen«, sagte Blanche. »Aber erst will ich dein Kleid.« Ich fühlte kühle Luft an meinem Rücken und merkte, dass sie wirklich von oben bis unten alle Ösen gelöst hatte. »Nimm die Arme hoch!«
Ich seufzte und gehorchte. »Dann nimm das Kleid, in Gottes Namen –«
Blanche zischte zornig: »Den solltest du hier nicht anrufen.« Einen Moment klang ihre Stimme bedrohlich und gar nicht mehr wie die eines jungen Mädchens. Aber als ich endlich fragen wollte, was für ein Problem es in Hollyhock mit Gott gab, lachte Blanche schon wieder und sagte: »Eitelkeit ist eine Todsünde, weißt du? Er will bestimmt nicht, dass du ihn wegen eines Kleides belästigst.« Während sie sprach, zerrte sie mir das Kleid vom Körper. »Französisch willst du also lernen, soso. Ein strebsames Findelkind bist du!«
Dann stand ich in Unterwäsche da. Und als ob das Blanche noch nicht genügte, faltete sie mein Kleid zusammen und legte es über den Fuß des Bettes, um sich als Nächstes an meinem Leibchen zu schaffen zu machen. Wieder fiel mir auf, wie unglaublich kalt ihre Hände waren – etwas, worüber ich immer noch lieber nachdachte als darüber, dass ich unter meinem Leibchen gar nichts mehr trug. Es war ein seltsames Gefühl – ich empfand weniger Scham als Verwundbarkeit. Ich hätte es vorgezogen, wenn sie wenigstens die Vorhänge geschlossen oder das Ganze nicht mitten in ihrem Zimmer stattgefunden hätte, sondern in der Kleiderkammer. Nicht, dass man von draußen hätte in den Raum hineinsehen können, aber trotzdem … Man konnte nicht jahrelang von Miss Mountford eingetrichtert bekommen, wie schändlich Nacktheit war, und dass wir auf keinen Fall unseren Körper betrachten durften, geschweige denn die der anderen Mädchen, und erst recht nicht anfassen, nur um dann zuzulassen, dass eine andere einem so ohne weiteres an der Unterwäsche herumwerkelte.
Dann fing Blanche auch noch an zu singen. Doch ihre Stimme war so schön, dass ich alle Gegenwehr vergaß – ich war noch nie in der Oper gewesen, aber ich stellte mir vor, dass die da auch nicht besser sangen als Blanche in diesem Moment. Ich stand ganz still und lauschte, auch wenn ich kein Wort verstand. »Que donneriez-vous, la belle, pour avoir votre ami? Que donneriez-vous, la belle, pour avoir votre ami?« Ich vermutete, dass es Französisch war, so klang es zumindest, aber ebenso gut hätte es Russisch oder Chinesisch sein können. »Je donnerais Versailles, Paris et St. Denis – «
Abrupt brach Blanche ab, und ich konnte mich wieder bewegen, wo ich eben noch gelähmt vor schierer Ergriffenheit war. War da etwas, oder jemand, vor dem sich Blanche erschrocken hatte? Nein, nichts in der Art – sie schien einfach nicht lange genug bei einer Sache bleiben zu können, selbst wenn es ums Singen ging.
»Oh, du bekommst eine Gänsehaut im Nacken!«, rief sie begeistert, und als sie mit ihrem eiskalten Finger über meine Haut glitt, zog sich mir dieser Schauder über den ganzen Körper. »Hier, warte, ich helfe dir … Was ist das denn?«
Einen kurzen Moment lang dachte ich, dass sie damit mein Hemd meinte oder meinen Nacken, bis ich einen schneidenden Zug am Hals spürte, als sich die Kette meines Medaillons in meine Haut eingrub. »Lass das los!«, flüsterte ich. »Das möchte ich nicht.« Jahrelang hatte ich das Medaillon getragen und zugleich erfolgreich vor den Blicken der anderen Mädchen verborgen – sie hätten nur versucht, damit herumzuspielen oder es aufzubrechen. Als ich nun begriff, dass dieses Medaillon gerade schutzlos in
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