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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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starrte mich an wie ein Kind ohne Verstand, und ihre Augen wurden immer größer. Vielleicht war es das erste Mal, dass jemand es wagte, sie anzubrüllen, aber hätte ich mich nicht mit aller Kraft beherrscht, ich hätte auch noch auf sie eingeschlagen wie von Sinnen. »Was meinst du?«, fragte sie, und ihre Stimme zitterte leicht. »Ich habe dir nichts gestohlen.«
    Zornig streckte ich ihr das Medaillon hin, und nur der Umstand, wie sehr ich immer daran gehangen hatte, hielt mich davon ab, es ihr ins Gesicht zu schleudern. »Da!«, schrie ich. »Es ist nichts drin!«
    Blanche beugte sich vor. Was wollte sie schon sehen? Es war ein Medaillon wie tausend andere mit zwei kleinen Fächern, in die man winzige Bildchen tun konnte, das Metall innen geschwärzt, und nichts darin als Luft. »Aber es ist doch gar nicht leer«, sagte sie, und dann lachte sie vergnügt und blies mir den feinen Staub ins Gesicht. »Siehst du«, sagte sie dann triumphierend. Sie musste unglaublich stolz darauf sein, dass sie es in dem Moment meiner größten Niederlage geschafft hatte, mich noch weiter zu demütigen. »So schöner Staub. Ganz silbern. Das ist Feenstaub.«
    Mehr ertrug ich nicht. Mein Gesicht brannte vor Zorn und Tränen, die ich nicht mehr zurückhalten konnte. Ich stieß Blanche mit der freien Hand von mir, dass sie rückwärtsstolperte, dann stürmte ich aus dem Zimmer. Dass ich nur Unterwäsche trug, mein Leibchen aufgeknüpft war, konnte mir in diesem Moment egal sein. Ich rannte den Flur entlang, die Treppe hinauf in mein Zimmer, dann warf ich mich auf das Bett und heulte.
    Aber noch nicht einmal da hielt ich es aus. Ich wollte mich eingraben, wo ich alleine war und es auch bleiben würde, wo niemand mich finden konnte – und der einzige Ort, an dem das ging, war das Puppenzimmer. Immer noch drückte sich das eiskalte Medaillon in meine Handfläche; ich wollte es nicht loslassen, aus Angst, es könnte sich dann genauso in Luft und Staub auflösen wie sein Inhalt. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus den Augen und sah, dass selbst an ihnen dieser silberne Staub klebte, was mich nur noch verzweifelter machte. Mein ganzes Leben lang war ich ein Waisenmädchen gewesen, ganz allein, ich hatte niemanden auf der Welt. Aber erst in diesem Moment fühlte es sich an, als wäre meine Familie gestorben, alle gleichzeitig, und ich würde sie niemals wiederbekommen.
    Ich versuchte, die Luft anzuhalten, um nicht laut zu schluchzen, und schlich mich aus meinem Zimmer, die Treppen hinunter, durch die Halle, durch den Flur, zum Puppenzimmer. Ganz leise, auf Zehenspitzen – ich wollte auf keinen Fall, dass Blanche mich hörte. Sie würde vielleicht bald kommen, um nach mir zu sehen, und dann wollte ich nirgendwo sein, wo sie mich finden konnte. Im Puppenzimmer, und nur da, konnte ich mich einschließen. Immer noch war ich in Unterwäsche, mein einziges sauberes Kleid lag auf Blanches Bett, und das, was ich in St. Margaret’s getragen hatte, hatte ich seit meiner Ankunft nicht mehr gesehen. Vielleicht hatte Mrs. Arden es verbrannt wie einen alten Lumpen, schade war es jedenfalls nicht darum. Aber da ich ohnehin nicht vorhatte, irgendeinen Menschen zu sehen, konnte es mir egal sein. Den Schlüssel hatte ich so oder so bei mir, den trug ich im Strumpfband, und meine Strümpfe waren das Einzige, an das Blanche nicht Hand angelegt hatte.
    Das Klicken, als ich die Tür aufschloss, war das erste Geräusch, das ich seit einer kleinen Ewigkeit wieder wahrnahm, und ich erlaubte mir, einmal zu atmen, nur ganz kurz schnappte ich nach Luft, um sie sofort wieder anzuhalten – laut heulen konnte ich immer noch, wenn ich drinnen war und die Tür hinter mir abgeschlossen. Verstohlen, wie es kein Dieb besser gekonnt hätte, schob ich mich in das Zimmer, ein schmaler Spalt reichte mir. Ich zog die Tür hinter mir zu und versperrte sie, und dann ging ich da, wo ich gerade stand, zu Boden, als hätte mir etwas die Beine unter dem Körper weggezogen, barg mein Gesicht zwischen den Knien und weinte, lautlos.
    Alle Lügen meines Lebens brachen über mir zusammen. Von wegen, meine Herkunft war mir egal! Sie war mir wichtiger als alles andere. Ich musste nicht wissen, wer oder was meine Eltern waren oder gewesen waren, nur, dass sie mich liebten. Dass sie mir ein letztes Zeichen mitgegeben hatten, das mich an sie erinnern sollte, wenn ich alt genug war, um es zu verstehen. Ein Pfand, das mir sagte: » Schau, du bist nicht allein, wir sind bei dir.«

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