Das Puppenzimmer - Roman
So hatte ich das Medaillon immer behandelt, nicht wie etwas, das ich liebte, sondern wie etwas, das mich liebhatte, wo es sonst niemand tat. Und jetzt war all das fort.
Wie lange ich da saß, konnte ich nicht sagen, ich spürte nur die Einsamkeit und nicht die Zeit, aber langsam, sehr langsam bekam ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte – und vor allem, dass ich eines nicht war: allein.
Es war nicht so, dass ich jemanden im Zimmer hörte oder sah oder roch, oder dass ich die Vibrationen fremder Schritte auf dem Fußboden spürte. Aber ein anderer Sinn, einer, der keinen Namen hatte, wusste, dass noch jemand im Raum war außer mir. Ein Gefühl von Kälte, Wärme, Angst kroch über mich. Ich hatte mich im Zimmer nicht umgeschaut, als ich hereinkam, und jetzt traute ich mich erst recht nicht – so lange, bis die Angst vor der Angst vor dem Unbekannten schlimmer war als das Unbekannte selbst. Dann endlich blickte ich auf, und wünschte mir im gleichen Augenblick, ich hätte es nicht getan. Es waren die Puppen. Nur, dass es keine Puppen mehr waren.
Zuerst erinnerte es mich an ein Bild aus einem meiner Träume, dass ich mir einen Moment lang nicht mehr sicher war, ob ich wachte oder schlief. Als wäre eine große Spinne gekommen und hätte alle Puppen mit ihrem seidenen Faden eingesponnen, waren sie auf den ersten Blick nichts anderes als große Kokons. Aber ich schlief nicht. Das wusste ich genau – ich hatte keine Flügel. In allen meinen Träumen konnte ich fliegen. Trotzdem fühlte es sich seltsam unwirklich an. Ich sah die verpuppten Gestalten und doch gleichzeitig immer noch die Umrisse der Puppen. Es erinnerte mich an dieses Spielzeug, bei dem sich eine Holzscheibe drehte mit einem Bild auf jeder Seite – beide waren wirklich für das Auge, und doch befanden sie sich in verschiedenen Welten: die Puppen, wo sie auch saßen oder standen, und die seidenen Gespinste an der gleichen Stelle. Ich zwinkerte und blinzelte, aber davon ging es nicht weg, und ich begriff, dass ich immer noch nicht das ganze Bild sah. Diese Holzscheibe hatte nicht zwei Seiten, sondern drei. Und das Dritte war …
Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Worte dafür. Es war lebendig. Es hatte Augen, mit denen es mich beobachtete, aber kein Gesicht. Es saß in jeder Puppe, in jedem Kokon, und es konnte nicht erwarten, hinauszukommen. Ein jedes war anders. Manche waren schwach und klein, manche leuchteten vor lauter Kraft, die Augen groß und glühend und tief. Es hatte keinen Namen. Es war nicht Mensch und nicht Tier, es war rohes, unfertiges Leben, das noch nicht wusste, was es einmal werden wollte, eingesperrt in scheinbar harmlosen Puppen, doch es ließ sich nicht ewig festhalten, irgendwann war es groß genug, um hinauszukommen …
Mit einer Mischung aus Angst, Entsetzen und Faszination ließ ich meinen Blick über das Zimmer wandern, von Puppe zu Puppe, Kokon zu Kokon, Augenpaar zu Augenpaar. Ich versuchte, klar zu denken, dem Ganzen einen Namen zu geben und einen Sinn – und dann sah ich die Puppen, die ich oben auf die Vitrine hatte setzen müssen, die eine, die ich Rufus gezeigt hatte, und die drei anderen, die ich danach gefunden hatte. Ich sah, was sie in Wirklichkeit waren. Ich glaubte noch, mich schreien zu hören. Danach wusste ich nichts mehr.
Vielleicht träumte ich. Ich wusste es nicht. Es fühlte sich nicht an wie ein Traum. Ich lag auf dem Rücken, und mein Körper war zu kraftlos, um mich aufzusetzen. Meine Haut brannte und juckte, doch auch dagegen konnte ich nichts tun. Ich fühlte Ungeziefer auf mir herumkriechen, doch ich war zu schwach, zu schwach für alles, ich konnte nicht einmal schreien, nicht meine kleinen Arme heben. Alles, was ich denken konnte, war Hunger, Durst, aber ich hatte noch nicht einmal Worte dafür. Ich konnte nur noch lautlos weinen, sonst nichts, und auf das Ende warten. Niemand war da. Niemand würde kommen. Niemand half mir. Ich hörte die anderen jammern und weinen, aber das machte mich nicht weniger allein und verlassen als zuvor. Sie konnten sich nicht mehr helfen als ich mir. Ich war verloren. Wir waren alle verloren.
Das Einzige, was mir noch Hoffnung gab, war das unbestimmte Wissen, dass dies nicht mein eigener Traum war. Oder war er es doch?
Als ich zu mir kam, lag ich auf Violets Sofa, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war. Um mich herum war es warm. Ich fühlte den glatten Plüsch unter meiner Haut kitzeln, an meinen nackten Armen und Beinen, und über mich hatte jemand
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