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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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Blanches Hand lag …
    »Florence«, sagte Blanche leise, ohne loszulassen. »Liebe, süße Florence, was hast du denn da für ein hübsches Ding?« Während sie sprach, löste sie die Kette von meinem Hals. Ich nahm das Medaillon niemals ab, außer zum Baden, und auch dann nur, damit die anderen Mädchen es nicht sahen; ich versteckte es dann zwischen meiner Wäsche. Aber hier stand Blanche und nahm es sich einfach, als ob es ihr gehörte.
    Ich wollte mich losreißen, aber ich konnte mich nicht rühren. Wenn ich ein Wort hatte für das, was ich fühlte, war es Entsetzen, nacktes, blankes Entsetzen – nicht wie in dem Moment, als ich die verfluchte Puppe berührt hatte, und doch war es mir, als hätte Blanche direkt in mein Herz hineingelangt und es mit ihrer kalten sanften Hand angehalten. »Das kannst du nicht haben«, flüsterte ich. »Bitte. Lass das los.«
    »Oh, aber ich will dir das nicht wegnehmen«, sagte Blanche, und dann hörte ich ein leises Klicken. »Hier.«
    Auf ihrer flachen Hand hielt sie mir das Medaillon hin, die feine Silberkette zusammengerollt wie eine Schlange im Gras. Aber ich konnte nur auf den Anhänger starren, und auf den deutlichen Spalt, wo die beiden Hälften auseinanderklafften. Ganz von alleine öffnete sich das Medaillon.

Zehntes Kapitel
    Ich schnappte nach Luft, während ich mich fühlte, als ob mir etwas den Hals zuschnürte. Blanche stand da, lächelte und streckte mir das Medaillon hin, ohne noch ein Wort zu sagen. Ich wollte die Hand danach ausstrecken, es an mich reißen, aber noch nicht einmal das brachte ich in diesem Moment fertig. Als ich wieder einigermaßen bei Atem war, würgte ich hervor: »Wie hast du das gemacht?«
    Blanches Augen waren groß und so undurchdringlich, dass ich noch nicht einmal sagen konnte, welche Farbe sie hatten. »Was habe ich gemacht?«, fragte sie unschuldig.
    Ich schluckte. Wenn ich ihr verriet, dass noch kein Mensch in 14 Jahren das Medaillon hatte öffnen können, würde sie zu neugierig werden und es erst einmal wieder selbst untersuchen wollen, und das durfte ich nicht zulassen. Ich musste den ersten Blick hineinwerfen, am besten allein. Aber ich hatte Angst. Wirklich Angst, Bammel, Schiss, wie immer man es nennen wollte – ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Plötzlich wollte ich es gar nicht mehr wissen. So viele Gedanken hatte ich mir in den Jahren gemacht, hatte mir vorgestellt, es wäre eine Miniatur darin, eine verblichene Photographie einer Frau, die meine Mutter sein konnte, in Sepia oder Grau, eine einzelne Haarlocke, ein Schlüsselchen, das winzige Bild eines Hauses – alles war möglich, aber sobald ich nachsah, würde der Traum enden. Wollte ich wirklich wissen, wer ich einmal gewesen war oder wo ich herkam? Reichte es nicht, dass ich jetzt war, wer ich war, und da hinging, wohin mein Weg mich trug?
    »Was ist?«, fragte Blanche. »Jetzt nimm es doch endlich.«
    Ich nickte, und meine zitternden Finger schlossen sich endlich um das Medaillon, ganz vorsichtig, um nichts von seinem Inhalt zu verlieren. Es war kalt geworden von Blanches Fingern, kälter, als ich es auf meiner Haut spüren wollte, und auch in meiner Hand wurde es nicht sofort wieder warm. Aber es tat sich auf wie eine Blüte in der Morgendämmerung, ganz ohne mein Zutun klafften die Hälften auseinander, dass ich sehen konnte, was darin war, ob ich wollte oder nicht. Oder was nicht darin war. Das Medaillon war leer.
    Ich schluckte, aber das reichte nicht, um gegen dieses Gefühl von plötzlicher Verzweiflung, Enttäuschung, Verrat anzukommen. All die Jahre über hatte ich das Medaillon gehütet wie den größten Schatz der Welt, es vor so vielen Augen verborgen, dass noch nicht einmal Miss Mountford mehr davon wusste und versuchen konnte, es mir fortzunehmen, alles für – nichts? Nur ein kleines bisschen Staub rieselte auf meine Handfläche, winzige Körnchen, die mir keine Geschichte erzählten. Ich rührte mich nicht, konnte den Dreck nicht einmal fortblasen, ohne sofort in Tränen auszubrechen. Langsam gelang es mir, die Faust um das Medaillon zu ballen, von mir aus auch um den Staub, und ich fühlte, wie ich wütend wurde, als wäre ich gerade um mein Erbe betrogen worden. Aber es war niemand anderes da, gegen den dieser Zorn sich richten konnte, als Blanche.
    »Du warst das!«, schrie ich sie an. »Du hast es mir weggenommen! Gib mir das, was drin war! Mir ist egal, ob du zaubern kannst wie dein Onkel, aber ich lasse mich nicht bestehlen!«
    Blanche

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