Das Puppenzimmer - Roman
eine Wolldecke gebreitet. Bis fast zur Nasenspitze zugedeckt, musste ich selbst aussehen wie in einem Kokon … Wie ein Kokon … Trotz der Hitze begann ich zu zittern.
»Sie wird wach«, hörte ich eine Stimme sagen, fremd und zugleich vertraut. Es konnte Rufus sein, aber er klang so freundlich – geradezu besorgt … Da lagen so viele Gefühle in seiner Stimme, dass ich ihn gar nicht wiedererkannte. Ich traute mich nicht zu blinzeln, aus Angst vor dem, was meine Augen erwartete. Die ganze Welt war aus den Fugen geraten, als könne ich plötzlich nicht mehr den Schein der Dinge sehen, sondern nur noch ihre wahre Gestalt, und die war schrecklicher als alle Fassade.
Eine Hand fuhr mir über die Stirn, kühl und sanft, und strich ein paar Haarsträhnen beiseite. Dann wurde von hinten mein Kopf gestützt, und etwas Hartes, Kaltes berührte meine Lippen, stieß gegen meine Zähne, bis ich unwillkürlich den Mund öffnete. Eine Flüssigkeit lief hinein, und ich schluckte – scharf, gleichzeitig irgendwie süß und dabei so seltsam vertraut, dass ich begriff, dass man sie mir schon zuvor eingeflößt haben musste, ehe ich wieder zu mir kam. Die Wärme, die meinen Gaumen umkoste, war nicht unangenehm, und als sie mir den Hals hinunterglitt und dann meinen Magen in eine kleine Sonne verwandelte, gefiel mir auch das. Aber es half nichts gegen die Bilder, die ich immer noch vor mir sah – die Puppen … und die Kokons … und … das andere. Der Schrecken kam zurück.
»Ruhig«, sagte Rufus. »Du musst keine Angst haben. Öffne deine Augen.« Etwas lag in seiner Stimme, das mich gehorchen ließ, auch wenn ich mir am liebsten die Decke über den Kopf gezogen und mich ganz tief darin vergraben hätte, in eine Dunkelheit, in der alles schwarz war und in der man nichts fürchten musste. Aber ich fühlte Vertrauen, wie ich es noch nicht kannte – jedenfalls nicht Rufus gegenüber. Wider besseres Wissen schlug ich die Augen auf.
Vor mir standen Rufus und Violet, und ich atmete erleichtert auf, als sie noch genauso aussahen wie zuvor. Die Vorstellung, an ihrer Stelle etwas anderes zu sehen, machte mir immer noch Angst, und ich starrte beide lange an, ohne etwas zu sagen, als erwartete ich, dass ihre Gesichter durchsichtig würden und den Blick freigaben auf das, was dahinter lag. Aber nichts passierte. Es waren die gleichen schönen, kalten Gesichter, die ich kannte, und die gleichen schönen, entsetzlichen Augen. Doch jetzt, zum ersten Mal überhaupt, gelang es mir, ihre Blicke zu erwidern – vielleicht, weil ich etwas so Schreckliches gesehen hatte, dass sie mir keine Angst mehr einjagen konnten. Endlich verstand ich, dass es gar nicht die Augen waren, die mich verstörten, sondern das, was aus ihnen hinausblickte, und ich wusste im gleichen Moment, dass sie keine Menschen waren – doch es machte mir nichts mehr aus. Es war nur die Bestätigung von etwas, das ich schon längst geahnt hatte, lange noch bevor mich Alan vor den beiden gewarnt hatte. Doch ich wusste auch: Sie waren nichts, das ich fürchten musste.
»Gut«, sagte Rufus. »Nun bist du also wieder da. Weißt du, warum du hier bist?«
Ich sah mich um: Wie ich schon anhand des Sofas geahnt hatte, war ich in Violets Morgenzimmer, die Kerzen brannten, und durch die Fenster konnte ich auf den Himmel blicken, der sich rötlich verfärbte. Wie viel Zeit vergangen war, vermochte ich nicht zu sagen, und auch nicht, wie ich dorthin gekommen war. So schüttelte ich den Kopf.
»Wir haben dich schreien gehört, Liebes«, sagte Violet. »Du bist im Puppenzimmer ohnmächtig geworden. Erinnerst du dich nicht?«
»Doch …«, sagte ich zögerlich. Dass ich das Bewusstsein verloren haben musste, konnte ich mir zusammenreimen, aber ich ahnte, dass sich Violets Frage mehr auf das bezog, was davor geschehen war. »Wo ist Blanche?«, fragte ich dann. Es hörte sich sicher seltsam an, wenn ich das sagte, aber ich war fest davon überzeugt, dass Blanche an allem schuld war, was an diesem Tag mit mir und um mich herum passiert war.
»Das sollte gerade nicht deine Sorge sein«, sagte Rufus, und fast war ich erleichtert, dass die alte Schärfe wieder in seiner Stimme mitschwang. »Erzähl uns lieber, was du gesehen hast.«
»Die Puppen –«, fing ich an und brach ab. Etwas gesehen zu haben, war eine Sache – es in Worte fassen eine andere. Ich schüttelte den Kopf.
»Früher oder später würdest du es herausfinden, das haben wir erwartet«, sagte Rufus. Er klang nicht so, als
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