Das Puppenzimmer - Roman
wäre ich auf ein finsteres Geheimnis gestoßen, das mich nun den Kopf kosten sollte, sondern vielmehr, als wäre ich einfach etwas langsamer von Begriff als andere Leute. Es half ein bisschen, mir vor Augen zu rufen, dass sowohl Rufus als auch Violet ganz genau wussten, was es mit den Puppen auf sich hatte. Jetzt nahmen sie mich ernst – sie würden mich nicht auslachen, mich nicht verrückt nennen, und das tat gut. »Jetzt beschreib genau, was du gesehen hast.«
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Es klebte noch ein bisschen von der süßscharfen Flüssigkeit daran, und auf dem kleinen Tisch sah ich ein Glas stehen, dessen Inhalt golden glänzte. Einen Moment lang wünschte ich mir, ich könnte noch mehr davon bekommen – nicht weil ich besonders versessen darauf gewesen wäre, noch einmal betrunken zu sein, aber weil ich mich an dem Glas hätte festhalten können und meinen Mund nicht zum Reden benutzen musste, solange ich trank. »Die Puppen«, sagte ich noch einmal, ganz langsam, während ich nach Worten rang, »in ihnen steckt etwas Lebendiges.« Ich konnte mir Zeit lassen. Rufus gab mir mit einem Nicken zu verstehen, dass er mich nicht hetzen würde – auch das kannte man so nicht von ihm. »Und es hat sich verpuppt«, murmelte ich. Sollten sich die beiden selbst einen Reim darauf machen; wenn sie wussten, was es mit den Puppen auf sich hatte, bestätigte ich vielleicht nur das, was sie ohnehin schon so oft gesehen hatten … Langsam fügte sich Steinchen für Steinchen in meinem Kopf zusammen, einzelne Bilder, kurze Momente: Kein Wunder, dass weder Rufus noch Violet jemals eine der Puppen anfassen wollten. Ich würde in Zukunft auch nach Ausreden suchen, meine Arbeit nicht fortsetzen zu müssen, und bei der Vorstellung, wie oft ich diese Dinger in der Hand gehalten, herumgetragen, bewegt hatte, wurde mir übel.
Ich versuchte, mir vor Augen zu führen, wie wirklich sie sich angefühlt hatten, das kühle Porzellan ihrer Köpfe, die Körper etwas wärmer, die lackierte Masse mit den feinen Rissen, die sich wie ein Spinnennetz über Arme und Beine zogen, kaum zu sehen und schon gar nicht zu ertasten – das waren richtige Puppen. Schwer wie Puppen. Fest wie Puppen. Meine Augen konnten sich vielleicht täuschen, aber auch meine Finger? Die Kokons, die ich gesehen hatte, mussten weich sein und viel, viel leichter – wie konnten das ein und dieselben Dinger sein? Es ergab keinen Sinn …
»Das ist richtig«, sagte Rufus leise. »Verstehst du jetzt, warum wir dir verboten haben, jemals zu irgendeinem Menschen von den Puppen zu sprechen?«
Ich nickte stumm. Auf meiner Zunge brannte der Drang, ihm zu verraten, dass ich Alan alles erzählt hatte, aber ich hütete mich – gerade war Rufus einmal nett, aber wenn ich ihn jetzt zornig machte, würde mich nichts mehr retten. Und Alan auch nicht, was das betraf. »Waren sie immer so?«, flüsterte ich. »Oder haben sie sich gerade verwandelt?«
»Schon immer«, antwortete Violet. »Seit Miss Lavender sie gesammelt hat. Oder besser, sie gerettet hat. Du weißt, was sie sind?«
Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich ein Wort gehabt hätte für das, was in den Puppen lebte, für dieses seltsame Glühen und Zittern … Fast hätte ich es Geister genannt, aber unter einem Geist stellte ich mir etwas von der Gestalt eines Menschen vor, durchscheinend und mit wehendem Gewand, wie die weiße Frau auf dem Kupferstich in einem Roman. Nicht wie ein Paar Pupillen ohne Augen, wie ein Leuchten ohne Licht, wie ein Leben ohne … ohne Leben. Ich schauderte. Ein Wort, ein Name, und die Bilder würden vielleicht verschwinden. Aber bis dahin …
»Es sind Seelen«, sagte Violet sanft, als gäbe es nichts Normaleres. »Sie sind kostbar. Du musst auf sie achtgeben.«
Ich schluckte. Ich würgte. Plötzlich fühlte ich mich verraten. Violet hatte es die ganze Zeit über gewusst, und Rufus auch – sie hatten mich benutzt, mich belogen, mir gesagt, ich sollte mich um ein paar Puppen kümmern – und wozu? Wofür brauchten sie mich? Es war einfacher, darüber nachzudenken als über das, was Violet gerade gesagt hatte: Seelen. Was wollten die Geschwister mit einem Zimmer voller Seelen? Ich hatte zu lange nicht gebetet und war mehrere Sonntage nicht in der Kirche gewesen, aber dadurch vergaß ich nicht, was man mir jahrelang eingebleut hatte. Gute Seelen kamen in den Himmel. Böse Seelen kamen in die Hölle. Alle dazwischen rösteten im Fegefeuer. Aber niemand hatte mir jemals etwas von
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