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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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Seelen erzählt, die sich in Puppen verwandelten. Es ergab keinen Sinn. Und wenn doch einer dahintersteckte, wollte ich ihn nicht kennen.
    »Es macht dir Angst, nicht wahr?«, redete Violet weiter. »Du hast sie gesehen, in ihrer wahren Gestalt. Niemand hat dich vorgewarnt. Es tut mir leid, dass du es auf diesem Weg erfahren musstest, aber wir hatten keine Wahl.«
    »Warum nicht?«, fragte ich. Das war es, was mich umtrieb: Warum hatten sie es mir nicht einfach gesagt? Ich hätte ihnen doch geglaubt … vielleicht … irgendwie …
    »Es ging nicht«, antwortete Rufus schroffer, als ich es in dem Moment vertragen konnte. Ich hatte auf eine Antwort von Violet gehofft, auf weiche, sanfte Worte, aber stattdessen war es ihr Bruder, der wieder das Wort ergriff: »Keiner von uns konnte sagen, wann du erwachen würdest. Dieses Wissen ist gefährlich, wir können nicht zulassen, dass ein Schläfer auch nur ein Wort davon erfährt, geschweige denn ein Mensch –« Rufus brach ab. Ich zwinkerte. »Du verstehst es noch nicht einmal jetzt«, sagte er. »Wie hättest du es dann gestern verstehen sollen, oder an irgendeinem anderen Tag?«
    Ich konnte nur den Kopf schütteln. Seine Worte sickerten langsam in meine Ohren und gruben sich von dort durch die Windungen meines Gehirns, aber bis sie einen Sinn ergaben, waren sie schon fast auf der anderen Seite wieder heraus. Ein Schläfer. Ein Mensch. Ich wusste nicht, was Rufus damit meinte. Mich? Und was war er?
    »Du wirst es noch verstehen«, sagte Violet, und diesmal war ich mir sicher, dass sie meine Gedanken gelesen hatte. »Nicht heute und nicht morgen – du beginnst gerade erst zu erwachen, aber es dauert seine Zeit.«
    »Vor allem«, sagte Rufus grimmig, »weil sie nicht von sich aus erwacht ist. Sie hat sie geweckt.«
    »Ich dachte, das war ihre Aufgabe?«, fragte Violet, und ich wusste, sie sprachen von Blanche. Blanche, die mein Medaillon geöffnet und mir silbernen Staub ins Gesicht geblasen hatte … Feenstaub …
    »Sie sollte vorsichtig vorfühlen, wann es so weit sein könnte. Dann, wenn sie zu erwachen beginnt, sanft nachhelfen. Nicht sie packen und ins kalte Wasser schleudern.« Langsam begriff ich, warum Blanche gerade nicht bei uns im Salon war.
    »Sie ist jung«, sagte Violet. »Sie steckt in einem Kinderkörper, weil sie im Geiste ein Kind ist . Du musst klare Worte finden, wenn du ihr einen Auftrag gibst. Du kannst nicht erwarten, dass sie es von sich aus versteht. Sie hatte Mitleid mit dem Mädchen, sie wollte Florence auf die Sprünge helfen.«
    Rufus schwieg. Von meiner Position auf dem Sofa konnte ich Violet gerade nicht sehen, sie musste hinter mir stehen, also konzentrierte ich mich auf Rufus’ Gesicht, auf seine Reaktion, seine Regungen. Er sah zornig aus, aber seine Wut richtete sich gegen Blanche, nicht mich. Endlich schien ihm aufzugehen, dass ich auch noch da war, dass ich alles, was sie sagten, hören konnte, und wenn es auch stimmte, dass ich kaum ein Wort davon verstand, würde ich mir doch alles merken und mir so lange das Hirn zermartern, bis es einen Sinn ergab. Endlich rührte Rufus sich, nahm das Glas, das einsam auf dem Tisch stand, und reichte es mir.
    »Trink das, Mädchen«, sagte er. »Es wird dir helfen zu schlafen, und du musst viel schlafen in der nächsten Zeit.« Er hob die Mundwinkel zu einem seiner kargen Lächeln. »Schlafen, um zu erwachen. Wenn du begreifst, was damit gemeint ist, hast du den schlimmsten Teil hinter dir.«
    Ich wollte nicht schlafen. Ich wusste, ich würde von den Puppen träumen, und von den Seelen – ich wollte nie mehr schlafen. Aber ich gehorchte, nahm das Glas und trank es aus. Mein Gegner war der Traum, nicht der Schlaf. Und ich musste ihm begegnen, um ihn bezwingen zu können.
    Als ich wieder erwachte, lag ich in meinem eigenen Bett. Es ging mir gut. Jemand war so freundlich gewesen, mir mein Nachthemd überzuziehen. Ich registrierte das mit einem Lächeln. Und schlief wieder ein.
    Anschließend hätte ich mich in den Hintern beißen können. Das wäre die Gelegenheit gewesen, endlich einmal Antworten zu bekommen auf alle Fragen, die mir auf der Seele brannten; ein einziges Mal hatte ich Rufus und Violet da, wo sie mir Dinge erzählten, statt mir immer nur neue Geheimnisse vorzusetzen, aber anstatt das auszunutzen, hatte ich den Schwanz eingekniffen und war davongerannt, hatte mich in den Schlaf geflüchtet … Selbst schuld. Die Chance würde sicherlich so schnell nicht wiederkommen. Und im Grunde

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