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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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obwohl mir eigentlich nicht danach zumute war, zu viel war geschehen. »Ich habe auch noch nie von schwarzen Blumen gehört«, sagte ich.
    »Schwarz?« Da war es wieder, dieses völlige Unverständnis in Blanches Stimme. »Rufus’ Blumen sind nicht schwarz. Sie sind rot, natürlich.« Sie lachte leise. »Aber du verstehst wirklich nichts von Namen … noch nicht.«
    Mir fiel auf, dass auch sie plötzlich nur noch von Rufus und Violet sprach, ohne ihre Titel zu benutzen, und ich fragte vorsichtig: »Er ist nicht wirklich dein Onkel, oder?«
    Blanche antwortete nicht. Sie legte nur einen Finger an ihre Lippen, dann machte sie sich wieder an dem Vogelkäfig zu schaffen. »Hier, den sollst du haben, du brauchst ihn gerade dringender als ich. Ich hole dir auch gleich den Ständer, an dem er aufgehängt wird, dann kannst du ihn besser sehen.«
    Endlich konnte ich am Boden des Käfigs den Vogel ausmachen. Er war winzig und unscheinbar, nicht bunt und prachtvoll, sondern von einem einfachen Braun, und er blickte mich aus seinen schwarzen Äuglein so keck an, als begreife er nicht, dass er auch nur ein Gefangener war. »Was ist das?«, fragte ich. »Eine kleine Nachtigall?« Ich konnte Spatzen erkennen und Amseln und Buchfinken, aber die meisten Vögel kannte ich nur von den Bildern im Almanach, und da diese nur schwarz und weiß waren, half mir das nicht wirklich weiter, wenn es um die Bestimmung von Arten ging. Aber Nachtigallen, das wusste ich, waren schlicht und braun, und doch hielt man sie in Käfigen, weil sie so schön sangen …
    Blanche lachte mich aus. »Was denkst du denn?«, rief sie. »Das ist mein Zaunkönig! Und jetzt ist es deiner. Er soll dich glücklich machen.«
    Der Vogel sah nicht aus, als ob er von seiner Aufgabe etwas ahnte, und ich war mir nicht sicher, ob ich den riesigen Käfig wirklich in meinem Zimmer haben wollte. »Hör mal, Blanche«, sagte ich. »Das ist alles furchtbar lieb von dir – aber wirklich, mir wäre es lieber, du würdest mir einfach nur verraten, was du da mit mir gemacht hast, vorhin.«
    »Vorgestern«, verbesserte mich Blanche.
    Das konnte ich ihr nicht glauben. Weder dass ich zwei Tage am Stück geschlafen haben sollte, noch, dass ich diese Zeit über ohne Essen oder Trinken ausgekommen war, ohne jetzt vor Hunger umzufallen. Aber ich wollte ihr nicht widersprechen, wenn sie mir dafür jetzt erzählte, was überhaupt mit mir los war. »An dem Tag, als du mein Medaillon aufgemacht hast«, sagte ich. »Das warst du doch, oder? Das ist nicht von allein passiert?«
    Blanche lächelte. »Es ist passiert, weil es an der Zeit war. Wäre ich nicht da gewesen, hätte es vielleicht noch eine Woche gedauert oder einen Monat oder ein Jahr, was weiß ich, aber so war es jedenfalls jetzt. Und du hast dich doch gefreut, oder? Du wolltest doch, dass es aufgeht, du wolltest wissen, was darin ist!«
    »Aber es war nichts drin«, sagte ich dumpf. Die Enttäuschung saß immer noch tief. »Nur ein bisschen Staub.«
    »Das bisschen Staub«, erwiderte Blanche, »ist mehr, als alle deine kleinen Waisenhausfreundinnen in ihren Medaillons haben, das verstehst du doch, oder?«
    Ich biss mir auf die Lippen. Sollte ich jetzt etwa auch noch dankbar sein? Andere Mädchen bekamen eine Haarlocke oder eine Miniatur ihrer Eltern, ich bekam Staub, der mich Dinge sehen ließ, die ich nicht sehen wollte. Und selbst wenn ich ohne Blanche niemals darangekommen wäre: Es war mein Staub, mein eigener, und ich hätte selbst entscheiden müssen, was mit ihm geschah. Stattdessen hatte Blanche ihn mir, als gäbe es nichts Komischeres, ins Gesicht geblasen, und jetzt war nichts mehr davon übrig. Das Medaillon war leer und tot und verriet mir nicht seine Geschichte, und meine erst recht nicht.            
    »Ich finde jedenfalls«, sagte Blanche, »dass du jetzt genug geschlafen hast. Lass uns runtergehen und nachsehen. Nach den Puppen, meine ich.«
    »Dein Onkel«, fing ich an, und weil es keinen Sinn mehr machte, diese Charade aufrechtzuerhalten, sagte ich stattdessen: »Rufus hat dir verboten, das Puppenzimmer zu betreten.«
    »Jaaa«, sagte Blanche und dehnte das Wort so lang, dass es unmöglich ernst gemeint sein konnte, »daran halte ich mich auch. Aber es muss doch jemand auf dich aufpassen, wenn du da wieder hineingehst. Schau mal, du bist in Ohnmacht gefallen, als du das letzte Mal in dem Zimmer warst, und wenn du nicht daran gedacht hättest, dabei zu schreien wie von Sinnen, hätte dich nie im Leben

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