Das Puppenzimmer - Roman
jemand gefunden. Ich will nur sichergehen, dass du dir beim nächsten Mal nicht auch noch den Kopf anstößt.« Sie rüttelte etwas am Vogelkäfig, um den armen kleinen Vogel darin tüchtig in Angst zu versetzen – vielleicht erwartete sie, dass er dann für uns singen würde, aber der Zaunkönig hatte nichts dergleichen im Sinn.
»Ich geh da nicht mehr hin«, sagte ich fest.
Blanche lachte. »Oh, ich habe gewusst, dass du das sagen würdest! Aber das gilt natürlich nicht. Du bist wegen der Puppen hier, da kannst du nicht einfach kneifen, nur weil du dich einmal vor ihnen gegruselt hast.«
Ich schüttelte den Kopf. Gegruselt hatte ich mich vor den Puppen zu anderen Gelegenheiten. Was sie zuletzt getan hatten, war, mich schier um den Verstand zu bringen. Und die Gelegenheit wollte ich ihnen nicht noch einmal bieten.
»Schau mal«, sagte Blanche, setzte sich auf meine Bettkante und begann, auf und ab zu wippen, dass die altersschwachen Bettfedern jämmerlich quietschten und ächzten. »Was soll denn passieren? Du hast dich erschrocken, weil du nicht darauf vorbereitet warst. Jetzt weißt du, was die Puppen in Wirklichkeit sind. Sie haben dir doch nichts getan, oder? Also. Und überhaupt, es kann sein, dass der Feenstaub nur einen Tag lang gehalten hat und du in Wirklichkeit überhaupt noch nicht am Erwachen bist. Das wäre natürlich dumm für uns, und für dich auch, glaub mir. Du willst ganz sicher erwachen, auch wenn du das noch nicht verstehst. Aber jedenfalls würdest du dann die Puppen wieder so sehen wie vorher, dumme, langweilige Puppen … Das würde mich wirklich interessieren, dich nicht auch?«
Aber ich wollte mich nicht umstimmen lassen. Ein Zimmer voller Puppen, von mir aus. Ein Zimmer voller lachender und weinender Puppen ohne Spiegelbild, das ging noch gerade so eben. Aber ein Zimmer voller verpuppter Seelen, die nur darauf warteten, auszuschlüpfen? Da brachten mich keine zehn Pferde mehr hinein.
»Das ist aber schade«, sagte Blanche bedauernd und verzog das Gesicht wieder zu einem süßen kleinen Schmollmund. »Da habe ich wirklich versucht, nett zu dir zu sein und dich zu nichts zu zwingen, sondern richtige Argumente anzuwenden, wie ihr sie doch immer so gerne habt … Aber wenn du nicht anders willst, bitte.« Und dann sagte sie mit einer Stimme, die mir durch Mark und Bein ging: »Ich befehle dir, mit mir in das Zimmer der Puppen zu gehen.«
Wie an einer Schnur gezogen, stieg ich aus dem Bett.
Elftes Kapitel
Blanche hatte mich ausgetrickst, diesmal richtig, aber ein Umstand rettete mich: Ich hatte nichts an. Es war eine Sache, in Nachthemd oder Unterwäsche im Bett zu liegen, oder zur Not auch auf Violets Sofa – wobei ich im Nachhinein errötete bei der Vorstellung, dass auch Rufus mich so gesehen hatte. Aber um jetzt bei vollem Bewusstsein durch das Haus zu marschieren, ob mit Blanche im Schlepptau oder ohne, brauchte ich Kleidung. Selbst wenn die Zimmermädchen und Lakaien sich bei einer Begegnung im Flur zur Wand drehten und taten, als sähen sie mich nicht, würde Mrs. Arden doch einiges Getuschel zu unterbieten haben, wenn mich am Ende ausgerechnet Tom oder Guy im Hemd durchs Haus laufen sahen. Und das sah sogar Blanche ein.
»Warte, ich helfe dir beim Anziehen«, sagte sie, vielleicht, damit es schneller ging, und vielleicht auch, weil sie doch irgendwie nett sein wollte. Schon stand sie hinter mir mit meinem Kleid, und ich roch Seife und Stärke als Zeichen dafür, dass die große Wäsche endlich fertig war und ich wieder ein oder zwei frische Kleider zu tragen hatte. Es gab also auch etwas Gutes daran, zwei Tage und Nächte durchzuschlafen. »Nimm die Arme hoch!«, befahl Blanche, und ich gehorchte.
Im nächsten Moment stieg ein Grinsen in mir auf, das ich mir nur mit Mühe verkneifen konnte. Blanche hatte, ohne es zu merken, sich selbst überlistet. Vielleicht konnte sie immer nur einen Befehl an mich aufrechterhalten, so mächtig war ihre Zauberei also doch nicht, und mit dem letzten Kommando hatte sie das, was sie mir zuvor befohlen hatte, kurzerhand überschrieben. Ich spürte, wie dieser Zwang von mir abfiel, während sie mir das Kleid über die folgsam hochgereckten Arme zog – aber Blanche brauchte das erst einmal nicht zu wissen. Sonst hätte sie den Befehl einfach nur erneuern müssen …
Ich war von Haus aus keine schlechte Schauspielerin, und manchmal, in besonders kühnen Momenten, fragte ich mich, ob nicht die Bühne als Ersatz für das Hochseil taugte, wenn
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