Das Puppenzimmer - Roman
es gerade keinen Zirkus gab, mit dem ich durchbrennen konnte. Jetzt konnte ich dieses Talent endlich einmal gebrauchen – vor Rufus, oder auch vor Violet, traute ich mich nicht zu schauspielern, ich wusste, dass sie mich sofort durchschauen konnten. Aber Blanche, das war etwas anderes. Man merkte, dass sie jünger war als diese beiden, die vorgaben, ihre Familie zu sein. Sie war nicht so mächtig.
Aber zumindest verstand Blanche etwas vom Anziehen. Ich war noch nie so schnell in meinem Kleid gewesen wie jetzt, komplett verschnürt mit allen Ösen und Schleifchen. Und allen Protesten Blanches zum Trotz, dass nur ihr diese Farbe zustünde, war ich es, die das weiße Kleid trug, und sie diejenige mit dem rosafarbenen. Vielleicht verstand sie mehr als ich von Namen und Kleidern, aber meins war meins.
»Du hattest bestimmt viel Zeit, dich hier in Hollyhock umzusehen, während ich geschlafen habe«, sagte ich im leisen Plauderton, als wir die Treppen hinunterstiegen. »Es ist wirklich großartig hier, findest du nicht?«
Blanche schüttelte den Kopf. »Ich habe es mir nicht angesehen«, sagte sie. »Rufus hat mir befohlen, in meinem Zimmer zu bleiben, bis du wieder aufwachst, damit ich mich bei dir entschuldigen kann und nicht noch mehr Unheil anrichte.«
Ich freute mich. Mein Plan würde aufgehen. Blanche sollte ruhig denken, dass ich sie in das Puppenzimmer führte, sie kannte sich in Hollyhock nicht halb so gut aus wie ich.
Bis in die große Halle stimmte der Weg noch, und dann in den Korridor, der an seinem einen Ende ins Puppenzimmer mündete, damit Blanche keinen Verdacht schöpfte. Aber statt nach rechts ging ich, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, nach links. Ich hoffte, dass die Tür, auf die wir zuhielten, nicht verschlossen war, und dass sie wirklich in die Bibliothek führte. Irgendwohin würde sie schon gehen. Ich hatte ein Dienstmädchen an der Tür gesehen, und so merkwürdig still und folgsam die Mädchen hier auch sein mochten, sie konnten sich nicht in Luft auflösen.
»Warte, ich muss noch aufschließen«, sagte ich, zog den Schlüssel hervor – nach dem Aufwachen hatte ich ihn unter meinem Kopfkissen gefunden und mich zum ersten Mal gefragt, wie die Molyneux’ mich im Puppenzimmer hatten finden können, wo doch der Schlüssel von der Innenseite steckte, bis mir eingefallen war, dass Rufus selbst von Ersatzschlüsseln gesprochen hatte. Ich tat so, als würde ich die Tür aufsperren: Ein klein bisschen Zauberei musste auch ich einmal praktizieren dürfen. Es konnte ja nicht sein, dass ich nur von Tricksern und Scharlatanen umgeben war, ohne mir das eine oder andere selbst abzuschauen. Blanche jedenfalls ahnte nichts.
Die Tür schwang lautlos auf, und vor mir sah ich eine hölzerne Wand. Ich wollte schon enttäuscht umkehren und fragte mich, wie ich Blanche noch überlisten sollte, als mir ein Riegel auffiel; so ging mein Schwindel einfach in den nächsten Akt über: Vorhang auf für » Das muss so sein! « . Das war schon immer so. Das schützte die Puppen nur doppelt vor neugierigen Blicken …
Und so traten wir zwischen zwei Bücherregalen hervor und standen in der Bibliothek.
»Was soll das?«, fauchte Blanche. »Wohin führst du mich?« Weiter kam sie nicht.
»Ah, Blanche«, sagte Rufus. »Und ich sehe, die Schläferin ist auch aufgewacht?«
»Ich wollte Blanche die Bibliothek zeigen, Sir«, piepste ich. »Sie sagte mir, dass sie Langeweile hat, und ich dachte mir, da gibt es keinen besseren Ort als die Bibliothek.«
Rufus, der mit seiner Times im Lesesessel saß, blickte mich scharf an; er wusste genau, dass ich log, und warum, und wohin Blanche eigentlich wollte. Er lächelte, und ich bildete mir ein, dass es endlich einmal anerkennend war. »Das ist sehr umsichtig von dir«, sagte er und legte die Zeitung beiseite. »Nichte, lass mich dir zeigen, was wir an erbaulicher Literatur haben, die den Geist eines heranwachsenden Mädchens erfreuen und erleuchten soll.«
»Aber … aber Onkel!«, protestierte Blanche noch, doch es war zu spät. Sie wusste nur zu gut, dass die Puppen für sie verbotenes Terrain waren.
Ich schob mich ein Stück weit an Rufus’ Zeitung heran, um einen Blick darauf zu erhaschen, was in der Welt los war. Vielleicht hatten sogar die Olympischen Spiele schon angefangen, ich hatte längst alles Gefühl dafür verloren, wie viel Zeit vergangen war – aber alles, was ich sehen konnte, waren die Todesanzeigen. Wenn Rufus sonst keine Interessen hatte
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