Das Rachespiel: Psychothriller (German Edition)
Fabrik. Sie muss es wissen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Vielleicht findet sie Festus, und er lebt wirklich noch. Vielleicht.
Und wenn sie ihn nicht findet? Dann ist sie genauso weit wie jetzt, oder? Nein, sagt sie sich selbst, denn dann habe ich es zumindest versucht.
Aber wird das etwas besser machen? Der klägliche Versuch?
Und was, wenn sie ihn zwar findet, er aber schon tot ist?
Manu presst die Lippen fest aufeinander. Fest steht, sie kann jetzt nicht nach Hause fahren. Sie kann so nicht ihrer Mama in die Augen sehen und ihr sagen, dass alles in Ordnung ist. Sie kann sich so selbst nicht in die Augen sehen und sich sagen, dass alles in Ordnung ist. Oder irgendwann sein wird.
Als sie die Lücke im Zaun erreicht hat, starrt sie auf den Erdhügel, der ihr die Sicht auf das Fabrikgebäude versperrt.
Sie horcht in sich hinein, doch da ist keine Stimme, die ihr sagt, was richtig ist und was falsch. Nein, in ihrem Inneren herrscht absolute Stille.
Das ist ein Vorgeschmack, sagt sie sich. So wirst du dich für den Rest deines Lebens fühlen.
Mit einem Ruck bugsiert sie ihr Fahrrad durch die Lücke im Zaun. Dahinter steigt sie nicht wieder auf, sondern schiebt das Rad um den Hügel herum. Das dauert ein bisschen länger, gibt ihr ein bisschen mehr Zeit.
Als das Gebäude in Manus Blickfeld gerät, bleibt sie einen Moment stehen. Nur ganz kurz durchzuckt sie der Gedanke, dass es vielleicht doch besser ist, umzukehren und nach Hause zu fahren. So, wie die anderen es getan haben. Aber das ist schnell vorbei, als sie Festus vor sich sieht, wie er mit strahlenden Augen vor ihrem Hauptquartier steht und sich riesig freut, als Fozzie ihm sagt, er könne in der Bande mitmachen.
Sie steigt auf und fährt das letzte Stück bis zum Eingang, den sie immer benutzen. Immer benutzt haben.
Sie lehnt das Fahrrad gegen die Wand und steigt ohne weiteres Zögern auf die Fensterbank.
Die Sonne scheint durch die große Lücke im Dach und legt einen gelblichen Schimmer über das unglaubliche Trümmerfeld, das sich ihren Augen bietet. Manu lässt ihren Blick über das heillose Durcheinander aus Steinen, zerbrochenen Ziegeln, Latten und durchgebrochenen Balken wandern, deren teilweise spitze, gezackte Bruchstellen wie gefährliche Waffen aus den Trümmern herausstechen. Dazwischen klaffen Lücken, dort, wo der Boden eingebrochen ist. Manu kann von ihrem Standort aus nicht sehen, was sich darunter befindet und wie tief die Löcher sind. Und ob vielleicht jemand da unten liegt.
»Festus?«, ruft sie zaghaft, aber so leise, dass er es sicher nicht hören könnte, selbst wenn er irgendwo da liegt. Sie ruft erneut seinen Namen, dieses Mal aber deutlich lauter. Sie bekommt keine Antwort.
Es bleibt ihr nichts anderes übrig, sie muss ins Halleninnere, über die Trümmer, nach ihm suchen.
So gut es geht, hält sie sich an dem verrosteten Fensterrahmen fest und streckt das linke Bein aus. Langsam lässt sie sich tiefer gleiten, bis ihr Fuß einen großen Stein berührt, der ihr Halt zu geben scheint. Nachdem sie das andere Bein nachgezogen und ein paarmal probehalber auf dem Stein gewippt hat, lässt sie den Fensterrahmen los und steht auf den Trümmern. Das erste Loch befindet sich sechs, sieben Meter von ihr entfernt in Richtung Hallenmitte. Es ist nicht sehr groß und wird durch einen quer verlaufenden Balken in der Mitte in zwei etwa gleichgroße Hälften geteilt.
Manu braucht etwa drei Minuten bis zu der Stelle, weil sie vor jedem Schritt testen muss, ob der unebene Untergrund aus Schutt sie trägt.
Etwa einen Meter vom Rand entfernt bleibt sie stehen und beugt sich etwas nach vorne. Von dieser Stelle aus sieht sie, dass das Loch etwa drei Meter tief ist. Der Untergrund sieht ähnlich aus wie der, auf dem sie gerade steht. Teilweise wird er vom Sonnenlicht erhellt, nur ein kleinerer Teil liegt im Schatten und ist schwer einzusehen.
»Festus?«, versucht sie es erneut mit lauter Stimme. »Festus, bist du da?« Nichts.
Manu umrundet das Loch und wirft einen Blick von der anderen Seite aus hinein. Auch hier bietet sich ihr das gleiche Bild. Steine, zerbrochene Ziegel und Latten, hier und da ein Balkenstück. Von einem Jungen ist nichts zu sehen.
Obwohl Manu erst eine von mindestens sechs oder sieben Einbruchstellen kontrolliert hat, verlässt sie der Mut. Wie soll sie Festus in diesem Chaos finden? Selbst wenn er tatsächlich irgendwo da unten liegt – es brauchen nur ein paar Ziegel auf ihm zu liegen, und sie hat keine
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